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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Heute ist die Partei im Reiche tatsächlich nahezu verschwunden und beruht
nur noch auf einer kleinen Anzahl von Persönlichkeiten, weitste mit Hilfe des allge-
meinen Stimmrechts durch die radikalere Sozialdemokratin die natürliche Erbin der
bürgerlichen Demokratie, erdrückt worden ist. Trotzdem sind ihre Organe fort¬
dauernd bemüht, auch zum preußischen Abgeordnetenhause den Erben, der Sozial¬
demokratie, die Pforten zu öffnen, indem sie uicht müde werden, das allgemeine
Stimmrecht für die preußischen Landtagswahlen zu fordern! Es ist das Schicksal
unsers vorgeschrittene" Liberalismus, durch politischen Selbstmord zu enden, heute
wie vor dreißig und vor fünfzig Jahren -- brave Theoretiker, die ans der Ge¬
schichte nichts lernen. Wir wünschen dem preußischen Abgeordnetenhause eine
Zusammensetzung, die es ermöglicht, einige notorische Mängel des preußischen Wahl¬
gesetzes zu beseitigen, auch einen Minister des Innern als schaffende Kraft. Aber
der Reichskanzler wird wahrscheinlich die "Wahlgesellschaft" seines Kutschers dem
Politischen Selbstmorde unsrer Liberalen vorziehn. Die verhüllte Drohung der
Vossischen Zeitung- "Und wenn die Regierung diese Reform nicht beizeiten willig
beantragt, wird sie sie zu spät gegen ihren Willen vorzunehmen sich genötigt sehen" --
kann einen Staatsmann nicht schrecken. Käme diese Drohung jemals zur Erfüllung,
so wäre die liberale Bourgeoisie wohl der letzte, der einen Nutzen davon hätte.


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Italien, Frankreich und Rußland.

Der Besuch des Königs von Italien
in Paris hat ohne Zweifel das seit Jahren vorbereitete Einverständnis mit Frank¬
reich über gewisse Frage" der Mittelmeerpolitik besiegelt. Wahrscheinlich hat Italien,
zugesichert, daß es in der marokkanischen Frage den Franzosen freie Hand lasse,
Frankreich dagegen, daß es Tripolis als ausschließliche Interessensphäre den Italienern
überlasse. Damit hat auch die französische Stellung in Tunis ihren bedrohlichen
Charakter für Italien verloren, und die sehr starke italienische Kolonistenbevölkerung
i" Tunesien hat Beeinträchtigungen ihrer nationalen Entwicklung nicht mehr zu
fürchten. Es ist die wichtigste Wendung der Mittelmeerpolitik seit 1881, die
übrigens der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibünde so wenig Abbruch tut, wie
der Riickversichernngsvertrag, den Fürst Bismarck 1837 mit Rußland schloß, ihm
sogar insofern zugute kommt, als damit die Gefahr eines französische" Angriffs auf
Italien für absehbare Zeit beseitigt wird, und damit much Deutschlands Bundespfluhtc"
erleichtert werden. Ist das ein Erfolg der italienischen Diplomatie, so hat sie da¬
gegen in den ebenfalls längst angebahnten Beziehungen z" Rußland die auf die
Bnlkanhalbinsel berechnet waren, eine empfindliche Schlappe erlitte", da der ange¬
kündigte Besuch des Zaren in Rom in.terbliebc" ist. Gewiß trage" daran nicht
"ur die Demonstrationen der italienischen Sozialisten und Anarchisten die Schuld,
sonder" auch die Ungeschicklichkeit des italienischen Answürtlgeu Amts, das sich keine
unbedingte Sicherheit vor "Jnkonvenienzen" zu geben getraute, und darüber ist
das Ministerium Zauardclli gefallen. Aber es hat wohl noch etwas andres mit¬
gewirkt, was nicht ausgesprochen wird, die Abneigung Rußlands nämlich, sich irgendwie
s"r gewisse Ansprüche Italiens auf Albanien z" verpflichten. Denn diese stoßen
"ut österreichische" A"Sprüchen zusammen, und Nußland darf in diesem Augenblicke
sein Einvernehmen mit Österreich, von dem die nächste Zukunft der Balkanländer
abhängt, nicht gefährden. Eben haben sa, am 22. Oktober, beide Großmächte ne
Konstantinopel ihre in Mürzsteg vereinbarten Reformvorschläge über Makedonien
überreicht, die das Land und seine Verwaltung unter europäische Kontrolle stellen
Wen. In Italien empfindet man es sehr bitter, daß die eigne R'egimii.g co n.iyt
verstanden hat, sich Anteil an diesen Verhandlungen zu verschaffe", und sieht var-u
eine neue Schlappe, ..einen Beweis von kolossaler Dummheit" (n"-r l''"v-r c>. rü^mnUd
w1°Wr>5). Mau setzt dabei voraus, daß auch Deutschland damit emverstai.de.i sei.
und daß el" de"löcher. schon in türkischen Diensten stehender Ge'icral d.e Reorga".-
Wtiou der Polizei in Makedonien übernehmen werde, wie man denn dort überhaupt
Osterreich nur als die Vorhut De.itschlm.dö i" der Türkei betrachtet.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Heute ist die Partei im Reiche tatsächlich nahezu verschwunden und beruht
nur noch auf einer kleinen Anzahl von Persönlichkeiten, weitste mit Hilfe des allge-
meinen Stimmrechts durch die radikalere Sozialdemokratin die natürliche Erbin der
bürgerlichen Demokratie, erdrückt worden ist. Trotzdem sind ihre Organe fort¬
dauernd bemüht, auch zum preußischen Abgeordnetenhause den Erben, der Sozial¬
demokratie, die Pforten zu öffnen, indem sie uicht müde werden, das allgemeine
Stimmrecht für die preußischen Landtagswahlen zu fordern! Es ist das Schicksal
unsers vorgeschrittene» Liberalismus, durch politischen Selbstmord zu enden, heute
wie vor dreißig und vor fünfzig Jahren — brave Theoretiker, die ans der Ge¬
schichte nichts lernen. Wir wünschen dem preußischen Abgeordnetenhause eine
Zusammensetzung, die es ermöglicht, einige notorische Mängel des preußischen Wahl¬
gesetzes zu beseitigen, auch einen Minister des Innern als schaffende Kraft. Aber
der Reichskanzler wird wahrscheinlich die „Wahlgesellschaft" seines Kutschers dem
Politischen Selbstmorde unsrer Liberalen vorziehn. Die verhüllte Drohung der
Vossischen Zeitung- „Und wenn die Regierung diese Reform nicht beizeiten willig
beantragt, wird sie sie zu spät gegen ihren Willen vorzunehmen sich genötigt sehen" —
kann einen Staatsmann nicht schrecken. Käme diese Drohung jemals zur Erfüllung,
so wäre die liberale Bourgeoisie wohl der letzte, der einen Nutzen davon hätte.


h- I- '


Italien, Frankreich und Rußland.

Der Besuch des Königs von Italien
in Paris hat ohne Zweifel das seit Jahren vorbereitete Einverständnis mit Frank¬
reich über gewisse Frage» der Mittelmeerpolitik besiegelt. Wahrscheinlich hat Italien,
zugesichert, daß es in der marokkanischen Frage den Franzosen freie Hand lasse,
Frankreich dagegen, daß es Tripolis als ausschließliche Interessensphäre den Italienern
überlasse. Damit hat auch die französische Stellung in Tunis ihren bedrohlichen
Charakter für Italien verloren, und die sehr starke italienische Kolonistenbevölkerung
i» Tunesien hat Beeinträchtigungen ihrer nationalen Entwicklung nicht mehr zu
fürchten. Es ist die wichtigste Wendung der Mittelmeerpolitik seit 1881, die
übrigens der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibünde so wenig Abbruch tut, wie
der Riickversichernngsvertrag, den Fürst Bismarck 1837 mit Rußland schloß, ihm
sogar insofern zugute kommt, als damit die Gefahr eines französische» Angriffs auf
Italien für absehbare Zeit beseitigt wird, und damit much Deutschlands Bundespfluhtc»
erleichtert werden. Ist das ein Erfolg der italienischen Diplomatie, so hat sie da¬
gegen in den ebenfalls längst angebahnten Beziehungen z» Rußland die auf die
Bnlkanhalbinsel berechnet waren, eine empfindliche Schlappe erlitte», da der ange¬
kündigte Besuch des Zaren in Rom in.terbliebc» ist. Gewiß trage» daran nicht
"ur die Demonstrationen der italienischen Sozialisten und Anarchisten die Schuld,
sonder» auch die Ungeschicklichkeit des italienischen Answürtlgeu Amts, das sich keine
unbedingte Sicherheit vor „Jnkonvenienzen" zu geben getraute, und darüber ist
das Ministerium Zauardclli gefallen. Aber es hat wohl noch etwas andres mit¬
gewirkt, was nicht ausgesprochen wird, die Abneigung Rußlands nämlich, sich irgendwie
s"r gewisse Ansprüche Italiens auf Albanien z» verpflichten. Denn diese stoßen
"ut österreichische» A»Sprüchen zusammen, und Nußland darf in diesem Augenblicke
sein Einvernehmen mit Österreich, von dem die nächste Zukunft der Balkanländer
abhängt, nicht gefährden. Eben haben sa, am 22. Oktober, beide Großmächte ne
Konstantinopel ihre in Mürzsteg vereinbarten Reformvorschläge über Makedonien
überreicht, die das Land und seine Verwaltung unter europäische Kontrolle stellen
Wen. In Italien empfindet man es sehr bitter, daß die eigne R'egimii.g co n.iyt
verstanden hat, sich Anteil an diesen Verhandlungen zu verschaffe», und sieht var-u
eine neue Schlappe, ..einen Beweis von kolossaler Dummheit" (n»-r l''«v-r c>. rü^mnUd
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Wtiou der Polizei in Makedonien übernehmen werde, wie man denn dort überhaupt
Osterreich nur als die Vorhut De.itschlm.dö i» der Türkei betrachtet.


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[0407] Maßgebliches und Unmaßgebliches Heute ist die Partei im Reiche tatsächlich nahezu verschwunden und beruht nur noch auf einer kleinen Anzahl von Persönlichkeiten, weitste mit Hilfe des allge- meinen Stimmrechts durch die radikalere Sozialdemokratin die natürliche Erbin der bürgerlichen Demokratie, erdrückt worden ist. Trotzdem sind ihre Organe fort¬ dauernd bemüht, auch zum preußischen Abgeordnetenhause den Erben, der Sozial¬ demokratie, die Pforten zu öffnen, indem sie uicht müde werden, das allgemeine Stimmrecht für die preußischen Landtagswahlen zu fordern! Es ist das Schicksal unsers vorgeschrittene» Liberalismus, durch politischen Selbstmord zu enden, heute wie vor dreißig und vor fünfzig Jahren — brave Theoretiker, die ans der Ge¬ schichte nichts lernen. Wir wünschen dem preußischen Abgeordnetenhause eine Zusammensetzung, die es ermöglicht, einige notorische Mängel des preußischen Wahl¬ gesetzes zu beseitigen, auch einen Minister des Innern als schaffende Kraft. Aber der Reichskanzler wird wahrscheinlich die „Wahlgesellschaft" seines Kutschers dem Politischen Selbstmorde unsrer Liberalen vorziehn. Die verhüllte Drohung der Vossischen Zeitung- „Und wenn die Regierung diese Reform nicht beizeiten willig beantragt, wird sie sie zu spät gegen ihren Willen vorzunehmen sich genötigt sehen" — kann einen Staatsmann nicht schrecken. Käme diese Drohung jemals zur Erfüllung, so wäre die liberale Bourgeoisie wohl der letzte, der einen Nutzen davon hätte. h- I- ' Italien, Frankreich und Rußland. Der Besuch des Königs von Italien in Paris hat ohne Zweifel das seit Jahren vorbereitete Einverständnis mit Frank¬ reich über gewisse Frage» der Mittelmeerpolitik besiegelt. Wahrscheinlich hat Italien, zugesichert, daß es in der marokkanischen Frage den Franzosen freie Hand lasse, Frankreich dagegen, daß es Tripolis als ausschließliche Interessensphäre den Italienern überlasse. Damit hat auch die französische Stellung in Tunis ihren bedrohlichen Charakter für Italien verloren, und die sehr starke italienische Kolonistenbevölkerung i» Tunesien hat Beeinträchtigungen ihrer nationalen Entwicklung nicht mehr zu fürchten. Es ist die wichtigste Wendung der Mittelmeerpolitik seit 1881, die übrigens der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibünde so wenig Abbruch tut, wie der Riickversichernngsvertrag, den Fürst Bismarck 1837 mit Rußland schloß, ihm sogar insofern zugute kommt, als damit die Gefahr eines französische» Angriffs auf Italien für absehbare Zeit beseitigt wird, und damit much Deutschlands Bundespfluhtc» erleichtert werden. Ist das ein Erfolg der italienischen Diplomatie, so hat sie da¬ gegen in den ebenfalls längst angebahnten Beziehungen z» Rußland die auf die Bnlkanhalbinsel berechnet waren, eine empfindliche Schlappe erlitte», da der ange¬ kündigte Besuch des Zaren in Rom in.terbliebc» ist. Gewiß trage» daran nicht "ur die Demonstrationen der italienischen Sozialisten und Anarchisten die Schuld, sonder» auch die Ungeschicklichkeit des italienischen Answürtlgeu Amts, das sich keine unbedingte Sicherheit vor „Jnkonvenienzen" zu geben getraute, und darüber ist das Ministerium Zauardclli gefallen. Aber es hat wohl noch etwas andres mit¬ gewirkt, was nicht ausgesprochen wird, die Abneigung Rußlands nämlich, sich irgendwie s"r gewisse Ansprüche Italiens auf Albanien z» verpflichten. Denn diese stoßen "ut österreichische» A»Sprüchen zusammen, und Nußland darf in diesem Augenblicke sein Einvernehmen mit Österreich, von dem die nächste Zukunft der Balkanländer abhängt, nicht gefährden. Eben haben sa, am 22. Oktober, beide Großmächte ne Konstantinopel ihre in Mürzsteg vereinbarten Reformvorschläge über Makedonien überreicht, die das Land und seine Verwaltung unter europäische Kontrolle stellen Wen. In Italien empfindet man es sehr bitter, daß die eigne R'egimii.g co n.iyt verstanden hat, sich Anteil an diesen Verhandlungen zu verschaffe», und sieht var-u eine neue Schlappe, ..einen Beweis von kolossaler Dummheit" (n»-r l''«v-r c>. rü^mnUd w1°Wr>5). Mau setzt dabei voraus, daß auch Deutschland damit emverstai.de.i sei. und daß el» de»löcher. schon in türkischen Diensten stehender Ge'icral d.e Reorga».- Wtiou der Polizei in Makedonien übernehmen werde, wie man denn dort überhaupt Osterreich nur als die Vorhut De.itschlm.dö i» der Türkei betrachtet.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/407>, abgerufen am 05.05.2024.