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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Moderne englische Belletristik

Zukunft vielleicht wirklich einmal die Herrscherstellung einnehmen werden, die
ihnen nach Kreises Meinung gebührt, so hängt von ihrem ethischen Charakter
sehr viel ab fürs Volkerwohl.




Moderne englische Belletristik

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^ngeführ fünfzehn Jahre sind verflossen, seit der greise Gladstone
in einem lungern Aufsatz im ^wetsöntn Lentui^ mit allen Waffen
seiner klassischen Bildung zur Verteidigung des altorthodoxen
Glaubens in die Schranken trat. Der Angriff, den der be¬
rühmte Staatsmann so ernster Abwehr für würdig hielt, kam von
einer Frau, der Schriftstellerin Humphry Ward, die mit einem ihrer ersten
Romane: Rovsrt Msrasrs an Stelle des alten christlichen Glaubens ein neues
Evangelium predigte. Gladstone hat mit seiner scharfen Kritik, die doch nirgends
dem starken Geiste der Verfasserin die schuldige Achtung versagte, viel zur Be¬
rühmtheit von Frau Ward beigetragen. Seit dem sensationellen Erfolge von
liovsrt Msmerö hat sie in der englischen Romanliteratur die führende Stellung
eingenommen, die sie ohne Unterbrechung bis auf den heutigen Tag behauptet
hat. Um sie Scharte sich eine Gruppe von Schriftstellern, die ihre dichterischen
Werke nur zu dem Zwecke schrieben, soziale und religiöse Fragen darin zu
diskutieren. Der Geschmack der britischen Lesewelt höherer Ordnung steht im
allgemeinen dem Tendenzroman weniger feindlich gegenüber als in Deutschland.
Es ist bezeichnend, daß sich unter all den absprechender Kritiken, deren Gegen¬
stand Robert Msmörs wurde, kaum eine Stimme erhob, die das Unkünstlerische
in Frau Warth Werk tadelte. Zwar wurde allgemein betont, daß die Roman¬
form von der Verfasserin gewählt worden sei, weil sie so am wirkungsvollsten
zu den "gebildeten Massen" reden könnte, und daß die religiösen Wandlungen
ihres Helden nur den Vorwand lieferten zu einer gründlichen Erörterung des
Zwiespalts zwischen den Dogmen der anglikanischen Kirche und der sogenannten
LuristiM LrotKsruooä. Aber man nahm ihr das weiter nicht übel und folgte
ihr bereitwillig, als sie auf dem erwählten Pfade weiter wandelte und in ihren
spätern Romanen bald dieses bald jenes soziale Problem beleuchtete, so noch
vor fünf Jahren in Hslbsok ok Mumsäg-I"; die Möglichkeit einer Ehe zwischen
einem strenggläubigen Katholiken und einem Mädchen agnostischen Bekenntnisses
oder in dem vorletzten Roman MöÄnor eine Umwandlung der innern Verhält¬
nisse Italiens. Doch hier treten die ersten Spuren einer künstlerischen Wand¬
lung hervor, denn die politischen Erörterungen stehn nicht mehr im Vorder¬
grunde des Romans. Offenbar hat die Verfasserin mehr Freude daran gehabt,
zwei eigentümliche Charaktere wie Manisch und Eleanor zu schaffen, als an
sozialpolitischen Ausführungen über italienische Mißwirtschaft. Das rein mensch¬
liche Interesse überwiegt, und deshalb sind die tendenziösen Ausfälle nicht wie
früher als organische Bestandteile untrennbar mit dem Ganzen verbunden,


Moderne englische Belletristik

Zukunft vielleicht wirklich einmal die Herrscherstellung einnehmen werden, die
ihnen nach Kreises Meinung gebührt, so hängt von ihrem ethischen Charakter
sehr viel ab fürs Volkerwohl.




Moderne englische Belletristik

O^5^>^
^ngeführ fünfzehn Jahre sind verflossen, seit der greise Gladstone
in einem lungern Aufsatz im ^wetsöntn Lentui^ mit allen Waffen
seiner klassischen Bildung zur Verteidigung des altorthodoxen
Glaubens in die Schranken trat. Der Angriff, den der be¬
rühmte Staatsmann so ernster Abwehr für würdig hielt, kam von
einer Frau, der Schriftstellerin Humphry Ward, die mit einem ihrer ersten
Romane: Rovsrt Msrasrs an Stelle des alten christlichen Glaubens ein neues
Evangelium predigte. Gladstone hat mit seiner scharfen Kritik, die doch nirgends
dem starken Geiste der Verfasserin die schuldige Achtung versagte, viel zur Be¬
rühmtheit von Frau Ward beigetragen. Seit dem sensationellen Erfolge von
liovsrt Msmerö hat sie in der englischen Romanliteratur die führende Stellung
eingenommen, die sie ohne Unterbrechung bis auf den heutigen Tag behauptet
hat. Um sie Scharte sich eine Gruppe von Schriftstellern, die ihre dichterischen
Werke nur zu dem Zwecke schrieben, soziale und religiöse Fragen darin zu
diskutieren. Der Geschmack der britischen Lesewelt höherer Ordnung steht im
allgemeinen dem Tendenzroman weniger feindlich gegenüber als in Deutschland.
Es ist bezeichnend, daß sich unter all den absprechender Kritiken, deren Gegen¬
stand Robert Msmörs wurde, kaum eine Stimme erhob, die das Unkünstlerische
in Frau Warth Werk tadelte. Zwar wurde allgemein betont, daß die Roman¬
form von der Verfasserin gewählt worden sei, weil sie so am wirkungsvollsten
zu den „gebildeten Massen" reden könnte, und daß die religiösen Wandlungen
ihres Helden nur den Vorwand lieferten zu einer gründlichen Erörterung des
Zwiespalts zwischen den Dogmen der anglikanischen Kirche und der sogenannten
LuristiM LrotKsruooä. Aber man nahm ihr das weiter nicht übel und folgte
ihr bereitwillig, als sie auf dem erwählten Pfade weiter wandelte und in ihren
spätern Romanen bald dieses bald jenes soziale Problem beleuchtete, so noch
vor fünf Jahren in Hslbsok ok Mumsäg-I«; die Möglichkeit einer Ehe zwischen
einem strenggläubigen Katholiken und einem Mädchen agnostischen Bekenntnisses
oder in dem vorletzten Roman MöÄnor eine Umwandlung der innern Verhält¬
nisse Italiens. Doch hier treten die ersten Spuren einer künstlerischen Wand¬
lung hervor, denn die politischen Erörterungen stehn nicht mehr im Vorder¬
grunde des Romans. Offenbar hat die Verfasserin mehr Freude daran gehabt,
zwei eigentümliche Charaktere wie Manisch und Eleanor zu schaffen, als an
sozialpolitischen Ausführungen über italienische Mißwirtschaft. Das rein mensch¬
liche Interesse überwiegt, und deshalb sind die tendenziösen Ausfälle nicht wie
früher als organische Bestandteile untrennbar mit dem Ganzen verbunden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/165>, abgerufen am 06.05.2024.