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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Der mitteleuropäische lvirtschaftsverein
von Friedrich Ratzel

in Jahre 1891 schrieb Kaiser Wilhelm der Zweite an den
Generalpostmeister Stephan: "Die Welt am Ende des neun¬
zehnten Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Verkehrs; er
durchbricht die Schranken, welche die Völker trennen, und knüpft
zwischen den Nationen neue Beziehungen an." Der erste Teil
dieses Satzes ist unendlich oft wiederholt worden, man kann ihn längst zu den
geflügelten Worten rechnen; aber die Folgerung, die der zweite Teil aus dem
ersten zieht, ist, wie das so zu gehn pflegt, weniger beachtet worden. Und
doch liegt gerade darin die praktische Wichtigkeit des Ausspruchs. Der Kaiser
pflegt sich nicht damit zu begnügen, Tatsachen zu behaupten, die ohnehin
offen daliegen; ihm hat jede Erscheinung ihre Bedeutung für sein Volk und
für die Welt und die Zeit, in der dieses Volk lebt. Ein Historiker der Zu¬
kunft wird daran erinnern, daß es die Zeit des Kampfes um die neuen
Handelsverträge war, in der diese Worte gesprochen wurden.

Am 1. Februar 1892 liefen die meisten Handelsverträge mit den euro¬
päischen Staaten ab, Ende 1891 beriet der Reichstag die Tarife der Verträge
mit Österreich, Italien, der Schweiz und Belgien. Da galt es, von den
Vismarckischen Schutzzollschraukeu soviel abzutragen, als die herangewachsne
Industrie und die gesteigerte Vvlksdichtigkeit unsers Landes brauchten, und
"ndre zu ähnlichen Abtragungs- und Durchbrechungsarbeiten zu veranlassen,
vor Mem Rußland, mit dem der Zollkrieg 1893 durch einen Vertrag ab¬
geschlossen wurde, der gegen den zühesten Widerstand der Agrarier durchgesetzt
worden ist. Damit war die Periode langfristiger Handelsverträge eröffnet, in
denen der Schutz der eigentümlichen Arbeit jedes Staates zwar festgehalten,
Zugleich aber manche Erleichterung geschaffen wurde, wie das unaufhaltsame
Wachsen des Verkehrs es fordert. Mit Deutschland fast zugleich gingen
Österreich, Italien, die Schweiz denselben Weg. Und was sich in den zwölf
Jahren der Dauer unsrer wichtigsten Handelsverträge an Verkehr und Aus¬
tausch der wichtigsten Völker Europas, und besonders Mitteleuropas, entwickelt
hat. fordert weitere Niederlegungen und Durchbrüche. Immer wird es ja
klarer, daß diese Verkehrscntwicklung nur die Konsequenzen der natürlichen
und geschichtlichen Bedingungen zieht, die Mitteleuropa zu einem einzigen


Grenzboten I 1904 ^


Der mitteleuropäische lvirtschaftsverein
von Friedrich Ratzel

in Jahre 1891 schrieb Kaiser Wilhelm der Zweite an den
Generalpostmeister Stephan: „Die Welt am Ende des neun¬
zehnten Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Verkehrs; er
durchbricht die Schranken, welche die Völker trennen, und knüpft
zwischen den Nationen neue Beziehungen an." Der erste Teil
dieses Satzes ist unendlich oft wiederholt worden, man kann ihn längst zu den
geflügelten Worten rechnen; aber die Folgerung, die der zweite Teil aus dem
ersten zieht, ist, wie das so zu gehn pflegt, weniger beachtet worden. Und
doch liegt gerade darin die praktische Wichtigkeit des Ausspruchs. Der Kaiser
pflegt sich nicht damit zu begnügen, Tatsachen zu behaupten, die ohnehin
offen daliegen; ihm hat jede Erscheinung ihre Bedeutung für sein Volk und
für die Welt und die Zeit, in der dieses Volk lebt. Ein Historiker der Zu¬
kunft wird daran erinnern, daß es die Zeit des Kampfes um die neuen
Handelsverträge war, in der diese Worte gesprochen wurden.

Am 1. Februar 1892 liefen die meisten Handelsverträge mit den euro¬
päischen Staaten ab, Ende 1891 beriet der Reichstag die Tarife der Verträge
mit Österreich, Italien, der Schweiz und Belgien. Da galt es, von den
Vismarckischen Schutzzollschraukeu soviel abzutragen, als die herangewachsne
Industrie und die gesteigerte Vvlksdichtigkeit unsers Landes brauchten, und
"ndre zu ähnlichen Abtragungs- und Durchbrechungsarbeiten zu veranlassen,
vor Mem Rußland, mit dem der Zollkrieg 1893 durch einen Vertrag ab¬
geschlossen wurde, der gegen den zühesten Widerstand der Agrarier durchgesetzt
worden ist. Damit war die Periode langfristiger Handelsverträge eröffnet, in
denen der Schutz der eigentümlichen Arbeit jedes Staates zwar festgehalten,
Zugleich aber manche Erleichterung geschaffen wurde, wie das unaufhaltsame
Wachsen des Verkehrs es fordert. Mit Deutschland fast zugleich gingen
Österreich, Italien, die Schweiz denselben Weg. Und was sich in den zwölf
Jahren der Dauer unsrer wichtigsten Handelsverträge an Verkehr und Aus¬
tausch der wichtigsten Völker Europas, und besonders Mitteleuropas, entwickelt
hat. fordert weitere Niederlegungen und Durchbrüche. Immer wird es ja
klarer, daß diese Verkehrscntwicklung nur die Konsequenzen der natürlichen
und geschichtlichen Bedingungen zieht, die Mitteleuropa zu einem einzigen


Grenzboten I 1904 ^
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[0261] [Abbildung] Der mitteleuropäische lvirtschaftsverein von Friedrich Ratzel in Jahre 1891 schrieb Kaiser Wilhelm der Zweite an den Generalpostmeister Stephan: „Die Welt am Ende des neun¬ zehnten Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Verkehrs; er durchbricht die Schranken, welche die Völker trennen, und knüpft zwischen den Nationen neue Beziehungen an." Der erste Teil dieses Satzes ist unendlich oft wiederholt worden, man kann ihn längst zu den geflügelten Worten rechnen; aber die Folgerung, die der zweite Teil aus dem ersten zieht, ist, wie das so zu gehn pflegt, weniger beachtet worden. Und doch liegt gerade darin die praktische Wichtigkeit des Ausspruchs. Der Kaiser pflegt sich nicht damit zu begnügen, Tatsachen zu behaupten, die ohnehin offen daliegen; ihm hat jede Erscheinung ihre Bedeutung für sein Volk und für die Welt und die Zeit, in der dieses Volk lebt. Ein Historiker der Zu¬ kunft wird daran erinnern, daß es die Zeit des Kampfes um die neuen Handelsverträge war, in der diese Worte gesprochen wurden. Am 1. Februar 1892 liefen die meisten Handelsverträge mit den euro¬ päischen Staaten ab, Ende 1891 beriet der Reichstag die Tarife der Verträge mit Österreich, Italien, der Schweiz und Belgien. Da galt es, von den Vismarckischen Schutzzollschraukeu soviel abzutragen, als die herangewachsne Industrie und die gesteigerte Vvlksdichtigkeit unsers Landes brauchten, und "ndre zu ähnlichen Abtragungs- und Durchbrechungsarbeiten zu veranlassen, vor Mem Rußland, mit dem der Zollkrieg 1893 durch einen Vertrag ab¬ geschlossen wurde, der gegen den zühesten Widerstand der Agrarier durchgesetzt worden ist. Damit war die Periode langfristiger Handelsverträge eröffnet, in denen der Schutz der eigentümlichen Arbeit jedes Staates zwar festgehalten, Zugleich aber manche Erleichterung geschaffen wurde, wie das unaufhaltsame Wachsen des Verkehrs es fordert. Mit Deutschland fast zugleich gingen Österreich, Italien, die Schweiz denselben Weg. Und was sich in den zwölf Jahren der Dauer unsrer wichtigsten Handelsverträge an Verkehr und Aus¬ tausch der wichtigsten Völker Europas, und besonders Mitteleuropas, entwickelt hat. fordert weitere Niederlegungen und Durchbrüche. Immer wird es ja klarer, daß diese Verkehrscntwicklung nur die Konsequenzen der natürlichen und geschichtlichen Bedingungen zieht, die Mitteleuropa zu einem einzigen Grenzboten I 1904 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/261>, abgerufen am 06.05.2024.