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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Großstadt.

Außerhalb des Königreichs Sachsen wird es kaum bekannt
sein, daß der um 22. Juni 1882 gestorbne Großkaufmann Franz Ludwig Gehe
in seinem Testament zwei Millionen Mark für den doppelten Zweck bestimmt hat:
"erstens eine geeignete Vorbereitung und Ausbildung von Männern, die sich dem
Dienste der Gemeinden oder einer andern öffentlichen Wirksamkeit widmen wollen,
zu unterstützen; zweitens Herren, die ohne für ihr Alter sorgen zu können, ihr
Leben in verdienstlicher Weise dem öffentlichen Wohle geweiht haben, beim Versagen
ihrer Kräfte, durch Aufnahme in ein zu begründendes Herrenstift, eine Art mo¬
dernes Prytaneum, oder nach Umständen durch Verleihung von Geldbenefizien vor
Bedrängnis zu bewahren." Den ersten dieser beiden Zwecke sucht die Gehe-
stiftung, die ihr vorläufiges Heim als Untermieterin des Vereins für Erdkunde
in Dresden, Kleine Brüdergasse 11, gefunden hat, durch Veranstaltung von Vor¬
tragszyklen, Einzelvorträgen, Diskussionsabenden und durch eine über 50000
Schriften umfassende Bibliothek mit Lesesaal zu erreichen, die sie den Bildungs¬
bedürftigen zur Benutzung darbietet. Im Winter 1902/3 nun hat die Gehestiftung
durch einen Vortragszyklus die Fachleute auf die bevorstehende deutsche Städte¬
ausstellung vorbereitet, und der Sekretär der Gesellschaft, Herr Theodor
Petermann, hat dann durch die Veröffentlichung dieser Vorträge (Die Gro߬
stadt, als neuntes Jahrbuch der Gehestiftung 1903 bei Zahn und Jaensch in
Dresden erschienen) eine bleibende Frucht der Ausstellung auch solchen gereicht, die
sie nicht besucht haben.

Im ersten der sieben Vorträge behandelt Karl Bücher "die Großstädte in
Gegenwart und Vergangenheit" und zeigt, daß die moderne Großstadt von der
asiatischen Despotenresidenz, der klassischen Polis und der mittelalterlichen Stadt etwas
grundverschiednes, ja nach dem hergebrachten Begriff eigentlich überhaupt keine
Stadt mehr ist (was die englische Bezeichnung dieser neuen Erscheinung durch den
neuen amtlichen Ausdruck Urban Distrikt -- zum Unterschiede von Borough und
Town -- rechtfertigt), und daß auch das Schlagwort vom Zuge nach der Stadt
nicht zutrifft. Bei dem vormals nie dagewesenen Wachstum der Bevölkerung
hätten die Großstädte auch ohne Zuzug durch ihren innern Zuwachs bedeutend an¬
schwellen müssen; der Zuzug bleibe allerdings nicht aus, aber die Bewegung sei
nicht gerade auf die Stadt gerichtet -- viele alte Städte verkümmerten sogar --,
sondern auf den Ort der größten Erwerbsmöglichkeit, und das sei ebenso oft eine
Land- wie eine Stadtgemeinde. Nicht so viel wie Verstädterung bedeute die
heutige Binnenwanderung (zunächst, würden wir hinzusetzen, denn am Ende bleibt
sie nirgends aus), sondern nur Anhäufung der Volksmassen an den Orten mit der besten
Aussicht auf Erwerb.

Es handelt sich also bet der heutigen Verteilung der Bevölkerung um die
letzte der vier Beziehungen des Volks zu seinem Boden, von denen Friedrich
Ratzel in seinem Vortrage über "die geographische Lage der großen Städte"
ausgeht; dem Menschen ist sein Boden: Wohnstätte, Heimat, Schutzgebiet und
Nährboden. Es versteht sich, daß der Meister anthropogeographischer Darstellung
diese vier Beziehungen an den Großstädten mit der Anschaulichkeit darlegt, die
man bei ihm gewohnt ist; auch eine Anzahl von Plänen gibt er bei. Da die
vierte der genannten Beziehungen schon an sich für die Bewohner eines Ortes
einen weitern Lebens- und Wirkungskreis abgrenzt als die andern drei -- wenn
man bei einer so schwankenden und unbestimmten Beziehung von abgrenzen reden
darf --, der heutige Verkehr aber für die Industrie- und die Handelsorte ein¬
ander kreuzende und deckende Erwerbskreise schafft, deren jeder sich über den
ganzen Globus ausdehnen kann, so ist die Verkehrslage Hauptbedingung für das
Entsteh" einer Großstadt. Am Schluß hebt Rachel eine Leistung der Städte hervor,
an die bisher noch wenig gedacht worden ist, die aber, einmal erkannt, Wohl als
die wichtigste geschätzt werden wird. "Als die Siedlungen so groß und so fest ge¬
worden waren, daß der siegreiche Eroberer eines Landes sie nicht mehr mit leichter


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Großstadt.

Außerhalb des Königreichs Sachsen wird es kaum bekannt
sein, daß der um 22. Juni 1882 gestorbne Großkaufmann Franz Ludwig Gehe
in seinem Testament zwei Millionen Mark für den doppelten Zweck bestimmt hat:
„erstens eine geeignete Vorbereitung und Ausbildung von Männern, die sich dem
Dienste der Gemeinden oder einer andern öffentlichen Wirksamkeit widmen wollen,
zu unterstützen; zweitens Herren, die ohne für ihr Alter sorgen zu können, ihr
Leben in verdienstlicher Weise dem öffentlichen Wohle geweiht haben, beim Versagen
ihrer Kräfte, durch Aufnahme in ein zu begründendes Herrenstift, eine Art mo¬
dernes Prytaneum, oder nach Umständen durch Verleihung von Geldbenefizien vor
Bedrängnis zu bewahren." Den ersten dieser beiden Zwecke sucht die Gehe-
stiftung, die ihr vorläufiges Heim als Untermieterin des Vereins für Erdkunde
in Dresden, Kleine Brüdergasse 11, gefunden hat, durch Veranstaltung von Vor¬
tragszyklen, Einzelvorträgen, Diskussionsabenden und durch eine über 50000
Schriften umfassende Bibliothek mit Lesesaal zu erreichen, die sie den Bildungs¬
bedürftigen zur Benutzung darbietet. Im Winter 1902/3 nun hat die Gehestiftung
durch einen Vortragszyklus die Fachleute auf die bevorstehende deutsche Städte¬
ausstellung vorbereitet, und der Sekretär der Gesellschaft, Herr Theodor
Petermann, hat dann durch die Veröffentlichung dieser Vorträge (Die Gro߬
stadt, als neuntes Jahrbuch der Gehestiftung 1903 bei Zahn und Jaensch in
Dresden erschienen) eine bleibende Frucht der Ausstellung auch solchen gereicht, die
sie nicht besucht haben.

Im ersten der sieben Vorträge behandelt Karl Bücher „die Großstädte in
Gegenwart und Vergangenheit" und zeigt, daß die moderne Großstadt von der
asiatischen Despotenresidenz, der klassischen Polis und der mittelalterlichen Stadt etwas
grundverschiednes, ja nach dem hergebrachten Begriff eigentlich überhaupt keine
Stadt mehr ist (was die englische Bezeichnung dieser neuen Erscheinung durch den
neuen amtlichen Ausdruck Urban Distrikt — zum Unterschiede von Borough und
Town — rechtfertigt), und daß auch das Schlagwort vom Zuge nach der Stadt
nicht zutrifft. Bei dem vormals nie dagewesenen Wachstum der Bevölkerung
hätten die Großstädte auch ohne Zuzug durch ihren innern Zuwachs bedeutend an¬
schwellen müssen; der Zuzug bleibe allerdings nicht aus, aber die Bewegung sei
nicht gerade auf die Stadt gerichtet — viele alte Städte verkümmerten sogar —,
sondern auf den Ort der größten Erwerbsmöglichkeit, und das sei ebenso oft eine
Land- wie eine Stadtgemeinde. Nicht so viel wie Verstädterung bedeute die
heutige Binnenwanderung (zunächst, würden wir hinzusetzen, denn am Ende bleibt
sie nirgends aus), sondern nur Anhäufung der Volksmassen an den Orten mit der besten
Aussicht auf Erwerb.

Es handelt sich also bet der heutigen Verteilung der Bevölkerung um die
letzte der vier Beziehungen des Volks zu seinem Boden, von denen Friedrich
Ratzel in seinem Vortrage über „die geographische Lage der großen Städte"
ausgeht; dem Menschen ist sein Boden: Wohnstätte, Heimat, Schutzgebiet und
Nährboden. Es versteht sich, daß der Meister anthropogeographischer Darstellung
diese vier Beziehungen an den Großstädten mit der Anschaulichkeit darlegt, die
man bei ihm gewohnt ist; auch eine Anzahl von Plänen gibt er bei. Da die
vierte der genannten Beziehungen schon an sich für die Bewohner eines Ortes
einen weitern Lebens- und Wirkungskreis abgrenzt als die andern drei — wenn
man bei einer so schwankenden und unbestimmten Beziehung von abgrenzen reden
darf —, der heutige Verkehr aber für die Industrie- und die Handelsorte ein¬
ander kreuzende und deckende Erwerbskreise schafft, deren jeder sich über den
ganzen Globus ausdehnen kann, so ist die Verkehrslage Hauptbedingung für das
Entsteh« einer Großstadt. Am Schluß hebt Rachel eine Leistung der Städte hervor,
an die bisher noch wenig gedacht worden ist, die aber, einmal erkannt, Wohl als
die wichtigste geschätzt werden wird. „Als die Siedlungen so groß und so fest ge¬
worden waren, daß der siegreiche Eroberer eines Landes sie nicht mehr mit leichter


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[0623] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Großstadt. Außerhalb des Königreichs Sachsen wird es kaum bekannt sein, daß der um 22. Juni 1882 gestorbne Großkaufmann Franz Ludwig Gehe in seinem Testament zwei Millionen Mark für den doppelten Zweck bestimmt hat: „erstens eine geeignete Vorbereitung und Ausbildung von Männern, die sich dem Dienste der Gemeinden oder einer andern öffentlichen Wirksamkeit widmen wollen, zu unterstützen; zweitens Herren, die ohne für ihr Alter sorgen zu können, ihr Leben in verdienstlicher Weise dem öffentlichen Wohle geweiht haben, beim Versagen ihrer Kräfte, durch Aufnahme in ein zu begründendes Herrenstift, eine Art mo¬ dernes Prytaneum, oder nach Umständen durch Verleihung von Geldbenefizien vor Bedrängnis zu bewahren." Den ersten dieser beiden Zwecke sucht die Gehe- stiftung, die ihr vorläufiges Heim als Untermieterin des Vereins für Erdkunde in Dresden, Kleine Brüdergasse 11, gefunden hat, durch Veranstaltung von Vor¬ tragszyklen, Einzelvorträgen, Diskussionsabenden und durch eine über 50000 Schriften umfassende Bibliothek mit Lesesaal zu erreichen, die sie den Bildungs¬ bedürftigen zur Benutzung darbietet. Im Winter 1902/3 nun hat die Gehestiftung durch einen Vortragszyklus die Fachleute auf die bevorstehende deutsche Städte¬ ausstellung vorbereitet, und der Sekretär der Gesellschaft, Herr Theodor Petermann, hat dann durch die Veröffentlichung dieser Vorträge (Die Gro߬ stadt, als neuntes Jahrbuch der Gehestiftung 1903 bei Zahn und Jaensch in Dresden erschienen) eine bleibende Frucht der Ausstellung auch solchen gereicht, die sie nicht besucht haben. Im ersten der sieben Vorträge behandelt Karl Bücher „die Großstädte in Gegenwart und Vergangenheit" und zeigt, daß die moderne Großstadt von der asiatischen Despotenresidenz, der klassischen Polis und der mittelalterlichen Stadt etwas grundverschiednes, ja nach dem hergebrachten Begriff eigentlich überhaupt keine Stadt mehr ist (was die englische Bezeichnung dieser neuen Erscheinung durch den neuen amtlichen Ausdruck Urban Distrikt — zum Unterschiede von Borough und Town — rechtfertigt), und daß auch das Schlagwort vom Zuge nach der Stadt nicht zutrifft. Bei dem vormals nie dagewesenen Wachstum der Bevölkerung hätten die Großstädte auch ohne Zuzug durch ihren innern Zuwachs bedeutend an¬ schwellen müssen; der Zuzug bleibe allerdings nicht aus, aber die Bewegung sei nicht gerade auf die Stadt gerichtet — viele alte Städte verkümmerten sogar —, sondern auf den Ort der größten Erwerbsmöglichkeit, und das sei ebenso oft eine Land- wie eine Stadtgemeinde. Nicht so viel wie Verstädterung bedeute die heutige Binnenwanderung (zunächst, würden wir hinzusetzen, denn am Ende bleibt sie nirgends aus), sondern nur Anhäufung der Volksmassen an den Orten mit der besten Aussicht auf Erwerb. Es handelt sich also bet der heutigen Verteilung der Bevölkerung um die letzte der vier Beziehungen des Volks zu seinem Boden, von denen Friedrich Ratzel in seinem Vortrage über „die geographische Lage der großen Städte" ausgeht; dem Menschen ist sein Boden: Wohnstätte, Heimat, Schutzgebiet und Nährboden. Es versteht sich, daß der Meister anthropogeographischer Darstellung diese vier Beziehungen an den Großstädten mit der Anschaulichkeit darlegt, die man bei ihm gewohnt ist; auch eine Anzahl von Plänen gibt er bei. Da die vierte der genannten Beziehungen schon an sich für die Bewohner eines Ortes einen weitern Lebens- und Wirkungskreis abgrenzt als die andern drei — wenn man bei einer so schwankenden und unbestimmten Beziehung von abgrenzen reden darf —, der heutige Verkehr aber für die Industrie- und die Handelsorte ein¬ ander kreuzende und deckende Erwerbskreise schafft, deren jeder sich über den ganzen Globus ausdehnen kann, so ist die Verkehrslage Hauptbedingung für das Entsteh« einer Großstadt. Am Schluß hebt Rachel eine Leistung der Städte hervor, an die bisher noch wenig gedacht worden ist, die aber, einmal erkannt, Wohl als die wichtigste geschätzt werden wird. „Als die Siedlungen so groß und so fest ge¬ worden waren, daß der siegreiche Eroberer eines Landes sie nicht mehr mit leichter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/623>, abgerufen am 06.05.2024.