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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Mühe zerstören konnte, war ein großer Fortschritt im Völkerleben gemacht: Staaten
konnten nicht mehr vollkommen entwurzelt, Völker nicht mehr zerstreut werden,
auch nach der tiefsten Niederlage blieb von einem Volke noch etwas übrig. Da¬
durch gewannen die Städte eine höhere Bedeutung für die Dauer der
Völker und zumal der Staaten. So weit es einen Fortschritt in der Ge¬
schichte gibt, muß er in der Förderung der Arbeit des heutigen Geschlechts durch
die Berührung mit dem Ertrage der Arbeit des gestrigen liegen. Für diese Er¬
haltung und Vermehrung der Kulturgüter sind die Städte als Lebenszentren und
als Denkmäler geschaffen."

Dr. Georg von Mayr spricht über "die Bevölkerung der Großstädte," und
zwar über ihre Zusammensetzung, Schichtung, Körperbeschaffenheit und Fruchtbar¬
keit. Die Frage, ob der Mensch in der Großstadt degeneriere, ist ungeheuer wichtig,
weil heute in Deutschland schon jeder sechste Mensch (in England jeder dritte) ein
Großstädter ist; 1850 war (nach Bücher) unter 38 Deutschen 1 Großstädter, 1870
unter 20, 1880 unter 13, 1890 unter 8. Mayr nun zeigt in einer Übersicht
über die statistischen Untersuchungen, wie ungemein schwierig die Beantwortung der
Frage ist, und daß vorläufig das statistische Material zur Beurteilung der äußerst
verwickelten Verhältnisse, die da in Betracht kommen, noch gar nicht verarbeitet ist.
Er warnt vor voreiligen Übertreibungen nach beiden Seiten, läßt aber durchblicken,
daß das vorhandne Material in Beziehung auf Militärtauglichkeit und Geburten¬
überschuß den Pessimisten einigermaßen Recht zu geben scheint. Auf die bange
Frage: Wie lange noch wird und kann das so weiter gehn mit dem Wachstum?
antwortet er mit dem Trost: Gott wird weiter helfen!

Im vierten Vortrag über "die wirtschaftliche Bedeutung der Großstädte" von
Professor Dr. Waentig wird zunächst ein Überblick über die fortschreitende Ver¬
städterung der Vereinigten Staaten gegeben und dann fortgefahren: "Merkwürdig
ist es nun, daß Deutschland . . . trotz großer natürlicher und kultureller Verschieden¬
heiten im allgemeinen doch die gleichen Entwicklungstendenzen erkennen läßt."
Nein, das ist gar nicht merkwürdig. Wo anders soll denn unser jährlicher Über¬
schuß hin als in die Städte, da doch der landwirtschaftliche Grund und Boden
verteilt und in festen Händen ist? Dagegen ist es merkwürdig, daß die noch so
schwach besiedelten Vereinigten Staaten schon diese bei uns durchaus natürliche
Entwicklung mitmachen, und dafür muß man allerdings mit Waentig die "kapita¬
listische Verkehrswirtschaft" verantwortlich machen. Daß zu den Ursachen, die
bei uns den an sich unvermeidlichen Prozeß verstärken und beschleunigen, die all¬
gemeine Militärdienstpflicht gehört, die den jungen Mann im entscheidenden Alter
aus seinen Verhältnissen herausreißt, dem Dorfleben entfremdet und mit den wirk¬
lichen und den Scheinvorzügen des Stadtlebens bekannt macht, hat keiner der Vor¬
tragenden erwähnt. Am Schlüsse der Abhandlung wird der neue Mensch gepriesen,
den die Großstadt erzeugt hat, dessen hervorstechender Charakterzug höchste geistige
Wachsen, dessen Daseinsprinzip größte Lebensintensität in Arbeit und Genuß sei.
Und auch noch die Überspannung und Überreizung wirke Gutes: sie erzeuge die
Sehnsucht nach dem Lande. "Nicht der Ländler mit seinem dämmerhaften Bewußt¬
sein, der Städter, der Großstädter war es, der das Land ästhetisch entdeckte."
Zukunftsideal sei die wechselseitige Durchdringung von Stadt und Land, ihre Ver¬
schmelzung zu einer höhern Einheit. (Hier hätte die Deutsche Gartenstadtgesellschaft
erwähnt werden können, die freilich wohl noch nicht gegründet war, als der Vor¬
trag gedruckt wurde. Eben geht uns die Nummer 5 ihrer Korrespondenz zu. Als
Geschäftsstelle ist Schlachtensee genannt; für den Vorstand zeichnet Heinrich Hart.)

ol'. Simmel liefert in seinem Vortrag über "die Großstädte und das Geistes¬
leben" eines seiner feinen und saubern seelenanatomischen Präparate, die man weder
auszugsweise wiedergeben noch durch Vorlegung von Probestücken empfehlen kann.
Besondre Beachtung verdient in dieser Röntgenphotographie der Psyche des Gro߬
städters der Gedanke, daß es hauptsächlich die Wucht des objektivierten, des in einer


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Mühe zerstören konnte, war ein großer Fortschritt im Völkerleben gemacht: Staaten
konnten nicht mehr vollkommen entwurzelt, Völker nicht mehr zerstreut werden,
auch nach der tiefsten Niederlage blieb von einem Volke noch etwas übrig. Da¬
durch gewannen die Städte eine höhere Bedeutung für die Dauer der
Völker und zumal der Staaten. So weit es einen Fortschritt in der Ge¬
schichte gibt, muß er in der Förderung der Arbeit des heutigen Geschlechts durch
die Berührung mit dem Ertrage der Arbeit des gestrigen liegen. Für diese Er¬
haltung und Vermehrung der Kulturgüter sind die Städte als Lebenszentren und
als Denkmäler geschaffen."

Dr. Georg von Mayr spricht über „die Bevölkerung der Großstädte," und
zwar über ihre Zusammensetzung, Schichtung, Körperbeschaffenheit und Fruchtbar¬
keit. Die Frage, ob der Mensch in der Großstadt degeneriere, ist ungeheuer wichtig,
weil heute in Deutschland schon jeder sechste Mensch (in England jeder dritte) ein
Großstädter ist; 1850 war (nach Bücher) unter 38 Deutschen 1 Großstädter, 1870
unter 20, 1880 unter 13, 1890 unter 8. Mayr nun zeigt in einer Übersicht
über die statistischen Untersuchungen, wie ungemein schwierig die Beantwortung der
Frage ist, und daß vorläufig das statistische Material zur Beurteilung der äußerst
verwickelten Verhältnisse, die da in Betracht kommen, noch gar nicht verarbeitet ist.
Er warnt vor voreiligen Übertreibungen nach beiden Seiten, läßt aber durchblicken,
daß das vorhandne Material in Beziehung auf Militärtauglichkeit und Geburten¬
überschuß den Pessimisten einigermaßen Recht zu geben scheint. Auf die bange
Frage: Wie lange noch wird und kann das so weiter gehn mit dem Wachstum?
antwortet er mit dem Trost: Gott wird weiter helfen!

Im vierten Vortrag über „die wirtschaftliche Bedeutung der Großstädte" von
Professor Dr. Waentig wird zunächst ein Überblick über die fortschreitende Ver¬
städterung der Vereinigten Staaten gegeben und dann fortgefahren: „Merkwürdig
ist es nun, daß Deutschland . . . trotz großer natürlicher und kultureller Verschieden¬
heiten im allgemeinen doch die gleichen Entwicklungstendenzen erkennen läßt."
Nein, das ist gar nicht merkwürdig. Wo anders soll denn unser jährlicher Über¬
schuß hin als in die Städte, da doch der landwirtschaftliche Grund und Boden
verteilt und in festen Händen ist? Dagegen ist es merkwürdig, daß die noch so
schwach besiedelten Vereinigten Staaten schon diese bei uns durchaus natürliche
Entwicklung mitmachen, und dafür muß man allerdings mit Waentig die „kapita¬
listische Verkehrswirtschaft" verantwortlich machen. Daß zu den Ursachen, die
bei uns den an sich unvermeidlichen Prozeß verstärken und beschleunigen, die all¬
gemeine Militärdienstpflicht gehört, die den jungen Mann im entscheidenden Alter
aus seinen Verhältnissen herausreißt, dem Dorfleben entfremdet und mit den wirk¬
lichen und den Scheinvorzügen des Stadtlebens bekannt macht, hat keiner der Vor¬
tragenden erwähnt. Am Schlüsse der Abhandlung wird der neue Mensch gepriesen,
den die Großstadt erzeugt hat, dessen hervorstechender Charakterzug höchste geistige
Wachsen, dessen Daseinsprinzip größte Lebensintensität in Arbeit und Genuß sei.
Und auch noch die Überspannung und Überreizung wirke Gutes: sie erzeuge die
Sehnsucht nach dem Lande. „Nicht der Ländler mit seinem dämmerhaften Bewußt¬
sein, der Städter, der Großstädter war es, der das Land ästhetisch entdeckte."
Zukunftsideal sei die wechselseitige Durchdringung von Stadt und Land, ihre Ver¬
schmelzung zu einer höhern Einheit. (Hier hätte die Deutsche Gartenstadtgesellschaft
erwähnt werden können, die freilich wohl noch nicht gegründet war, als der Vor¬
trag gedruckt wurde. Eben geht uns die Nummer 5 ihrer Korrespondenz zu. Als
Geschäftsstelle ist Schlachtensee genannt; für den Vorstand zeichnet Heinrich Hart.)

ol'. Simmel liefert in seinem Vortrag über „die Großstädte und das Geistes¬
leben" eines seiner feinen und saubern seelenanatomischen Präparate, die man weder
auszugsweise wiedergeben noch durch Vorlegung von Probestücken empfehlen kann.
Besondre Beachtung verdient in dieser Röntgenphotographie der Psyche des Gro߬
städters der Gedanke, daß es hauptsächlich die Wucht des objektivierten, des in einer


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[0624] Maßgebliches und Unmaßgebliches Mühe zerstören konnte, war ein großer Fortschritt im Völkerleben gemacht: Staaten konnten nicht mehr vollkommen entwurzelt, Völker nicht mehr zerstreut werden, auch nach der tiefsten Niederlage blieb von einem Volke noch etwas übrig. Da¬ durch gewannen die Städte eine höhere Bedeutung für die Dauer der Völker und zumal der Staaten. So weit es einen Fortschritt in der Ge¬ schichte gibt, muß er in der Förderung der Arbeit des heutigen Geschlechts durch die Berührung mit dem Ertrage der Arbeit des gestrigen liegen. Für diese Er¬ haltung und Vermehrung der Kulturgüter sind die Städte als Lebenszentren und als Denkmäler geschaffen." Dr. Georg von Mayr spricht über „die Bevölkerung der Großstädte," und zwar über ihre Zusammensetzung, Schichtung, Körperbeschaffenheit und Fruchtbar¬ keit. Die Frage, ob der Mensch in der Großstadt degeneriere, ist ungeheuer wichtig, weil heute in Deutschland schon jeder sechste Mensch (in England jeder dritte) ein Großstädter ist; 1850 war (nach Bücher) unter 38 Deutschen 1 Großstädter, 1870 unter 20, 1880 unter 13, 1890 unter 8. Mayr nun zeigt in einer Übersicht über die statistischen Untersuchungen, wie ungemein schwierig die Beantwortung der Frage ist, und daß vorläufig das statistische Material zur Beurteilung der äußerst verwickelten Verhältnisse, die da in Betracht kommen, noch gar nicht verarbeitet ist. Er warnt vor voreiligen Übertreibungen nach beiden Seiten, läßt aber durchblicken, daß das vorhandne Material in Beziehung auf Militärtauglichkeit und Geburten¬ überschuß den Pessimisten einigermaßen Recht zu geben scheint. Auf die bange Frage: Wie lange noch wird und kann das so weiter gehn mit dem Wachstum? antwortet er mit dem Trost: Gott wird weiter helfen! Im vierten Vortrag über „die wirtschaftliche Bedeutung der Großstädte" von Professor Dr. Waentig wird zunächst ein Überblick über die fortschreitende Ver¬ städterung der Vereinigten Staaten gegeben und dann fortgefahren: „Merkwürdig ist es nun, daß Deutschland . . . trotz großer natürlicher und kultureller Verschieden¬ heiten im allgemeinen doch die gleichen Entwicklungstendenzen erkennen läßt." Nein, das ist gar nicht merkwürdig. Wo anders soll denn unser jährlicher Über¬ schuß hin als in die Städte, da doch der landwirtschaftliche Grund und Boden verteilt und in festen Händen ist? Dagegen ist es merkwürdig, daß die noch so schwach besiedelten Vereinigten Staaten schon diese bei uns durchaus natürliche Entwicklung mitmachen, und dafür muß man allerdings mit Waentig die „kapita¬ listische Verkehrswirtschaft" verantwortlich machen. Daß zu den Ursachen, die bei uns den an sich unvermeidlichen Prozeß verstärken und beschleunigen, die all¬ gemeine Militärdienstpflicht gehört, die den jungen Mann im entscheidenden Alter aus seinen Verhältnissen herausreißt, dem Dorfleben entfremdet und mit den wirk¬ lichen und den Scheinvorzügen des Stadtlebens bekannt macht, hat keiner der Vor¬ tragenden erwähnt. Am Schlüsse der Abhandlung wird der neue Mensch gepriesen, den die Großstadt erzeugt hat, dessen hervorstechender Charakterzug höchste geistige Wachsen, dessen Daseinsprinzip größte Lebensintensität in Arbeit und Genuß sei. Und auch noch die Überspannung und Überreizung wirke Gutes: sie erzeuge die Sehnsucht nach dem Lande. „Nicht der Ländler mit seinem dämmerhaften Bewußt¬ sein, der Städter, der Großstädter war es, der das Land ästhetisch entdeckte." Zukunftsideal sei die wechselseitige Durchdringung von Stadt und Land, ihre Ver¬ schmelzung zu einer höhern Einheit. (Hier hätte die Deutsche Gartenstadtgesellschaft erwähnt werden können, die freilich wohl noch nicht gegründet war, als der Vor¬ trag gedruckt wurde. Eben geht uns die Nummer 5 ihrer Korrespondenz zu. Als Geschäftsstelle ist Schlachtensee genannt; für den Vorstand zeichnet Heinrich Hart.) ol'. Simmel liefert in seinem Vortrag über „die Großstädte und das Geistes¬ leben" eines seiner feinen und saubern seelenanatomischen Präparate, die man weder auszugsweise wiedergeben noch durch Vorlegung von Probestücken empfehlen kann. Besondre Beachtung verdient in dieser Röntgenphotographie der Psyche des Gro߬ städters der Gedanke, daß es hauptsächlich die Wucht des objektivierten, des in einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/624>, abgerufen am 27.05.2024.