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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Herbert Spencers System

urteilung einer Sache nötig, und andrerseits wird der Volksfreund einen, wenn
auch wehmütigen Trost darin finden, daß auch bei der freiwilligen Unfall¬
versicherung der höher stehenden Kreise die Fälle von Übertreibung und Ver¬
schlimmerung der Unfallfolgen zur Erlangung pekuniärer Vorteile leider nicht
allzu selten sind.




Herbert Spencers System
2. Psychologie

el der Grundanschauung Spencers versteht es sich von selbst,
daß Untersuchungen des körperlichen Werkzeugs der Seele einen
breiten Raum einnehmen. Er beginnt mit dem, was das tierische
Leben für die sinnliche Wahrnehmung charakterisiert, der selb¬
ständigen Bewegung. Die Tiere niedrigster Art bewegen sich
sehr langsam. Das Infusorium scheint unterm Mikroskop rasch hin und her
zu schießen; aber diese Schnelligkeit ist nur ein durch die Vergrößerung be¬
wirkter Schein; in Wirklichkeit kommt es nicht rascher von der Stelle als der
Minutenzeiger einer Taschenuhr. Je mehr sich ein Nervensystem entwickelt,
je größer dann bei den höhern Tierarten die Hirnmasse wird im Verhältnis
zur Körpermasse, desto rascher nicht allein, sondern auch desto mannigfaltiger
wird die Bewegung, desto größer also die Menge der Bewegung. Das Pferd
läuft rascher als der Mensch, aber dennoch ist die Menge von Bewegung, die
der Mensch erzeugt, viel größer als die des Pferdes, weil die Bewegungen
seiner Glieder, namentlich der Arme, Hände und Finger, viel mannigfaltiger
sind und noch die feinen Bewegungen seiner Stimm- und Sprachwerkzeuge
hinzukommen. In Beziehung auf Anatomie und Physiologie nun werden wohl
deutsche Studierende aus Spencer nichts wesentlich Neues erfahren, ihn jedoch
mich nicht ohne Nutzen lesen, da manche seiner originellen Darstellungen zu
bessern: Verständnis verhilft. So der schon erwähnte Vergleich der Muskel-
innervation mit einer Sprengvorrichtung alten Stils (mit Pulver). Ein etwa
von einem erleuchteten Fenster aufgehender Lichtstrahl trifft die Zäpfchen der
Netzhaut. Diese, wie überhaupt die Nerven, bestehn aus einer Masse, deren
Gleichgewichtszustand sehr labil ist (die äußerst unsta-vie sind, pflegt Spencer
zu sagen; von labilem Gleichgewichtszustand dürfte die beste Übersetzung dieses
Wortes sein). Die Störung pflanzt sich ins Hirn fort, wo sie auf eine
Ganglienmasse trifft, die noch erregbarer ist, die empfcmgne Bewegung ver¬
stärkt und in motorischen Nervensträngen eine Welle von Erregungen erzeugt,
die, bei gewissen Muskeln angelangt, hier große mechanische Bewegungen,
etwa Gehbewegungen, auslöst. So gibt die feinste Molekularbewegung in
mikroskopischen Zellen den Anstoß zu großen mechanischen Bewegungen-
Wunderbar erscheint an dieser Auffassung nur, daß sich das -- oft in rascher
Aufeinanderfolge unzähligemale -- in den Nerventeilchen gestörte Gleichgewicht
immer augenblicklich von selbst wieder vollkommen herstellt. An der Stelle im


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urteilung einer Sache nötig, und andrerseits wird der Volksfreund einen, wenn
auch wehmütigen Trost darin finden, daß auch bei der freiwilligen Unfall¬
versicherung der höher stehenden Kreise die Fälle von Übertreibung und Ver¬
schlimmerung der Unfallfolgen zur Erlangung pekuniärer Vorteile leider nicht
allzu selten sind.




Herbert Spencers System
2. Psychologie

el der Grundanschauung Spencers versteht es sich von selbst,
daß Untersuchungen des körperlichen Werkzeugs der Seele einen
breiten Raum einnehmen. Er beginnt mit dem, was das tierische
Leben für die sinnliche Wahrnehmung charakterisiert, der selb¬
ständigen Bewegung. Die Tiere niedrigster Art bewegen sich
sehr langsam. Das Infusorium scheint unterm Mikroskop rasch hin und her
zu schießen; aber diese Schnelligkeit ist nur ein durch die Vergrößerung be¬
wirkter Schein; in Wirklichkeit kommt es nicht rascher von der Stelle als der
Minutenzeiger einer Taschenuhr. Je mehr sich ein Nervensystem entwickelt,
je größer dann bei den höhern Tierarten die Hirnmasse wird im Verhältnis
zur Körpermasse, desto rascher nicht allein, sondern auch desto mannigfaltiger
wird die Bewegung, desto größer also die Menge der Bewegung. Das Pferd
läuft rascher als der Mensch, aber dennoch ist die Menge von Bewegung, die
der Mensch erzeugt, viel größer als die des Pferdes, weil die Bewegungen
seiner Glieder, namentlich der Arme, Hände und Finger, viel mannigfaltiger
sind und noch die feinen Bewegungen seiner Stimm- und Sprachwerkzeuge
hinzukommen. In Beziehung auf Anatomie und Physiologie nun werden wohl
deutsche Studierende aus Spencer nichts wesentlich Neues erfahren, ihn jedoch
mich nicht ohne Nutzen lesen, da manche seiner originellen Darstellungen zu
bessern: Verständnis verhilft. So der schon erwähnte Vergleich der Muskel-
innervation mit einer Sprengvorrichtung alten Stils (mit Pulver). Ein etwa
von einem erleuchteten Fenster aufgehender Lichtstrahl trifft die Zäpfchen der
Netzhaut. Diese, wie überhaupt die Nerven, bestehn aus einer Masse, deren
Gleichgewichtszustand sehr labil ist (die äußerst unsta-vie sind, pflegt Spencer
zu sagen; von labilem Gleichgewichtszustand dürfte die beste Übersetzung dieses
Wortes sein). Die Störung pflanzt sich ins Hirn fort, wo sie auf eine
Ganglienmasse trifft, die noch erregbarer ist, die empfcmgne Bewegung ver¬
stärkt und in motorischen Nervensträngen eine Welle von Erregungen erzeugt,
die, bei gewissen Muskeln angelangt, hier große mechanische Bewegungen,
etwa Gehbewegungen, auslöst. So gibt die feinste Molekularbewegung in
mikroskopischen Zellen den Anstoß zu großen mechanischen Bewegungen-
Wunderbar erscheint an dieser Auffassung nur, daß sich das — oft in rascher
Aufeinanderfolge unzähligemale — in den Nerventeilchen gestörte Gleichgewicht
immer augenblicklich von selbst wieder vollkommen herstellt. An der Stelle im


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[0644] Herbert Spencers System urteilung einer Sache nötig, und andrerseits wird der Volksfreund einen, wenn auch wehmütigen Trost darin finden, daß auch bei der freiwilligen Unfall¬ versicherung der höher stehenden Kreise die Fälle von Übertreibung und Ver¬ schlimmerung der Unfallfolgen zur Erlangung pekuniärer Vorteile leider nicht allzu selten sind. Herbert Spencers System 2. Psychologie el der Grundanschauung Spencers versteht es sich von selbst, daß Untersuchungen des körperlichen Werkzeugs der Seele einen breiten Raum einnehmen. Er beginnt mit dem, was das tierische Leben für die sinnliche Wahrnehmung charakterisiert, der selb¬ ständigen Bewegung. Die Tiere niedrigster Art bewegen sich sehr langsam. Das Infusorium scheint unterm Mikroskop rasch hin und her zu schießen; aber diese Schnelligkeit ist nur ein durch die Vergrößerung be¬ wirkter Schein; in Wirklichkeit kommt es nicht rascher von der Stelle als der Minutenzeiger einer Taschenuhr. Je mehr sich ein Nervensystem entwickelt, je größer dann bei den höhern Tierarten die Hirnmasse wird im Verhältnis zur Körpermasse, desto rascher nicht allein, sondern auch desto mannigfaltiger wird die Bewegung, desto größer also die Menge der Bewegung. Das Pferd läuft rascher als der Mensch, aber dennoch ist die Menge von Bewegung, die der Mensch erzeugt, viel größer als die des Pferdes, weil die Bewegungen seiner Glieder, namentlich der Arme, Hände und Finger, viel mannigfaltiger sind und noch die feinen Bewegungen seiner Stimm- und Sprachwerkzeuge hinzukommen. In Beziehung auf Anatomie und Physiologie nun werden wohl deutsche Studierende aus Spencer nichts wesentlich Neues erfahren, ihn jedoch mich nicht ohne Nutzen lesen, da manche seiner originellen Darstellungen zu bessern: Verständnis verhilft. So der schon erwähnte Vergleich der Muskel- innervation mit einer Sprengvorrichtung alten Stils (mit Pulver). Ein etwa von einem erleuchteten Fenster aufgehender Lichtstrahl trifft die Zäpfchen der Netzhaut. Diese, wie überhaupt die Nerven, bestehn aus einer Masse, deren Gleichgewichtszustand sehr labil ist (die äußerst unsta-vie sind, pflegt Spencer zu sagen; von labilem Gleichgewichtszustand dürfte die beste Übersetzung dieses Wortes sein). Die Störung pflanzt sich ins Hirn fort, wo sie auf eine Ganglienmasse trifft, die noch erregbarer ist, die empfcmgne Bewegung ver¬ stärkt und in motorischen Nervensträngen eine Welle von Erregungen erzeugt, die, bei gewissen Muskeln angelangt, hier große mechanische Bewegungen, etwa Gehbewegungen, auslöst. So gibt die feinste Molekularbewegung in mikroskopischen Zellen den Anstoß zu großen mechanischen Bewegungen- Wunderbar erscheint an dieser Auffassung nur, daß sich das — oft in rascher Aufeinanderfolge unzähligemale — in den Nerventeilchen gestörte Gleichgewicht immer augenblicklich von selbst wieder vollkommen herstellt. An der Stelle im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/644>, abgerufen am 06.05.2024.