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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wo die Bevölkerungszahl noch weit von der Ernährimgsgrenze abliegt und sich für
den Aufbau neuen Kapitals überaus zahlreiche Gelegenheiten bieten, wird eine De¬
pression, die sich infolge überstürzter Kapitalbildung einstellt, viel rascher überwunden
werden als etwa in Deutschland, wo die Ernährungsgrenze schon überschritten ist,
und die Gelegenheiten für den Aufbau neuen Kapitals verhältnismäßig selten ge¬
worden sind. Im allgemeinen darf man annehmen, daß je mehr Kapital schon
aufgebaut ist, desto weniger aufzubauen übrig bleibt."

Hier wäre der Ort gewesen, die Zustände zu beschreiben, die sich in einem
übervölkerten Land entwickeln. Ist seine Bevölkerung so rege und energisch wie
die deutsche, und sind überdies seine Staatseinrichtungen darauf berechnet, allge¬
meine Tätigkeit zu erzwingen, so tritt eine Stockung, die allgemeine Arbeitlosigkeit
zur Folge hätte, noch nicht sofort ein, und die Kapitalbildung schreitet noch eine
Zeit lang fort. Aber viele von den Gütern, die mit den neuen Kapitalien erzeugt
werden, sind von geringem Wert, und der in Geld berechnete Reichtum des Volks
ist zu einem großen Teil Scheinreichtum. Der Durchschnittsangehörige dieses Volks
hat zu wenig Natur und Naturerzeugnisse -- diese aber sind die beglückenden,
darum wahrhaft wertvollen -- und dafür so viel Kunsterzeugnisse, daß sie ihm zur
Last werden. Er hat zu wenig Wohnraum, reine Luft, kostenloses reines Wasser,
Garten, Spielraum, Fleisch, Milch, Eier, Obst, dafür zu viel Bier, Schnaps, Tabak,
"Costümes," Ansichtskarten, Nippsachen, unbrauchbaren, bloß der Mode wegen an¬
geschafften Hausrat, Literatur und Zeitungschnnd. In den konservativen Zeitungen
wird augenblicklich über den durch den Götzen "standesgemäß" erzwungnen Luxus
der Offiziere und der mittlern Beamten gejammert und die Rückkehr zur altpreußischen
Einfachheit gepredigt. Volkswirtschaftlich angesehen bedeutet dieser Jammer: die
produktiven Stände haben die Wahl, ob sie durch die Rückkehr der Konsumenten
zur Einfachheit ruiniert werden wollen oder dnrch einen Steuerdruck, der es durch
fortwährende Steigerung der Besoldungen den Offizieren und Beamten möglich macht,
in immer luxuriöserer Lebensführung mit dem Wachstum des Produktivkapitals gleichen
Schritt zu halten. Auch die vermehrten Ansprüche an die Equipierung, von denen
behauptet wird, daß sie für sich allein schon hinreichten, einen ganz soliden aber
mittellosen Leutnant zugrunde zu richten, sind auf mehr oder weniger unbewußte
Anpassung an das steigende Absatzbedürfnis der Industrie zurückzuführen.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh, Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig


Mundhygienische Trilsgie.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wo die Bevölkerungszahl noch weit von der Ernährimgsgrenze abliegt und sich für
den Aufbau neuen Kapitals überaus zahlreiche Gelegenheiten bieten, wird eine De¬
pression, die sich infolge überstürzter Kapitalbildung einstellt, viel rascher überwunden
werden als etwa in Deutschland, wo die Ernährungsgrenze schon überschritten ist,
und die Gelegenheiten für den Aufbau neuen Kapitals verhältnismäßig selten ge¬
worden sind. Im allgemeinen darf man annehmen, daß je mehr Kapital schon
aufgebaut ist, desto weniger aufzubauen übrig bleibt."

Hier wäre der Ort gewesen, die Zustände zu beschreiben, die sich in einem
übervölkerten Land entwickeln. Ist seine Bevölkerung so rege und energisch wie
die deutsche, und sind überdies seine Staatseinrichtungen darauf berechnet, allge¬
meine Tätigkeit zu erzwingen, so tritt eine Stockung, die allgemeine Arbeitlosigkeit
zur Folge hätte, noch nicht sofort ein, und die Kapitalbildung schreitet noch eine
Zeit lang fort. Aber viele von den Gütern, die mit den neuen Kapitalien erzeugt
werden, sind von geringem Wert, und der in Geld berechnete Reichtum des Volks
ist zu einem großen Teil Scheinreichtum. Der Durchschnittsangehörige dieses Volks
hat zu wenig Natur und Naturerzeugnisse — diese aber sind die beglückenden,
darum wahrhaft wertvollen — und dafür so viel Kunsterzeugnisse, daß sie ihm zur
Last werden. Er hat zu wenig Wohnraum, reine Luft, kostenloses reines Wasser,
Garten, Spielraum, Fleisch, Milch, Eier, Obst, dafür zu viel Bier, Schnaps, Tabak,
„Costümes," Ansichtskarten, Nippsachen, unbrauchbaren, bloß der Mode wegen an¬
geschafften Hausrat, Literatur und Zeitungschnnd. In den konservativen Zeitungen
wird augenblicklich über den durch den Götzen „standesgemäß" erzwungnen Luxus
der Offiziere und der mittlern Beamten gejammert und die Rückkehr zur altpreußischen
Einfachheit gepredigt. Volkswirtschaftlich angesehen bedeutet dieser Jammer: die
produktiven Stände haben die Wahl, ob sie durch die Rückkehr der Konsumenten
zur Einfachheit ruiniert werden wollen oder dnrch einen Steuerdruck, der es durch
fortwährende Steigerung der Besoldungen den Offizieren und Beamten möglich macht,
in immer luxuriöserer Lebensführung mit dem Wachstum des Produktivkapitals gleichen
Schritt zu halten. Auch die vermehrten Ansprüche an die Equipierung, von denen
behauptet wird, daß sie für sich allein schon hinreichten, einen ganz soliden aber
mittellosen Leutnant zugrunde zu richten, sind auf mehr oder weniger unbewußte
Anpassung an das steigende Absatzbedürfnis der Industrie zurückzuführen.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh, Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig


Mundhygienische Trilsgie.


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[0758] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wo die Bevölkerungszahl noch weit von der Ernährimgsgrenze abliegt und sich für den Aufbau neuen Kapitals überaus zahlreiche Gelegenheiten bieten, wird eine De¬ pression, die sich infolge überstürzter Kapitalbildung einstellt, viel rascher überwunden werden als etwa in Deutschland, wo die Ernährungsgrenze schon überschritten ist, und die Gelegenheiten für den Aufbau neuen Kapitals verhältnismäßig selten ge¬ worden sind. Im allgemeinen darf man annehmen, daß je mehr Kapital schon aufgebaut ist, desto weniger aufzubauen übrig bleibt." Hier wäre der Ort gewesen, die Zustände zu beschreiben, die sich in einem übervölkerten Land entwickeln. Ist seine Bevölkerung so rege und energisch wie die deutsche, und sind überdies seine Staatseinrichtungen darauf berechnet, allge¬ meine Tätigkeit zu erzwingen, so tritt eine Stockung, die allgemeine Arbeitlosigkeit zur Folge hätte, noch nicht sofort ein, und die Kapitalbildung schreitet noch eine Zeit lang fort. Aber viele von den Gütern, die mit den neuen Kapitalien erzeugt werden, sind von geringem Wert, und der in Geld berechnete Reichtum des Volks ist zu einem großen Teil Scheinreichtum. Der Durchschnittsangehörige dieses Volks hat zu wenig Natur und Naturerzeugnisse — diese aber sind die beglückenden, darum wahrhaft wertvollen — und dafür so viel Kunsterzeugnisse, daß sie ihm zur Last werden. Er hat zu wenig Wohnraum, reine Luft, kostenloses reines Wasser, Garten, Spielraum, Fleisch, Milch, Eier, Obst, dafür zu viel Bier, Schnaps, Tabak, „Costümes," Ansichtskarten, Nippsachen, unbrauchbaren, bloß der Mode wegen an¬ geschafften Hausrat, Literatur und Zeitungschnnd. In den konservativen Zeitungen wird augenblicklich über den durch den Götzen „standesgemäß" erzwungnen Luxus der Offiziere und der mittlern Beamten gejammert und die Rückkehr zur altpreußischen Einfachheit gepredigt. Volkswirtschaftlich angesehen bedeutet dieser Jammer: die produktiven Stände haben die Wahl, ob sie durch die Rückkehr der Konsumenten zur Einfachheit ruiniert werden wollen oder dnrch einen Steuerdruck, der es durch fortwährende Steigerung der Besoldungen den Offizieren und Beamten möglich macht, in immer luxuriöserer Lebensführung mit dem Wachstum des Produktivkapitals gleichen Schritt zu halten. Auch die vermehrten Ansprüche an die Equipierung, von denen behauptet wird, daß sie für sich allein schon hinreichten, einen ganz soliden aber mittellosen Leutnant zugrunde zu richten, sind auf mehr oder weniger unbewußte Anpassung an das steigende Absatzbedürfnis der Industrie zurückzuführen. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh, Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig Mundhygienische Trilsgie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/758>, abgerufen am 06.05.2024.