Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zukunft der juristischen Professuren

ihnen eben den Mangel praktischer Anschauung nicht ersetzen könne, und daß
sie erst von der praktischen Anschauung mit Recht eine befruchtende Rück¬
wirkung auf die Theorie erwarten könnten.


4

Die Einführung des neuen bürgerlichen Rechts hatte neben der er¬
wähnten noch eine andre Umwälzung zur selbstverständlichen Folge: das
Römische Recht hörte auf, der Mittelpunkt des Rechtsunterrichts zu sein, und
an seine Stelle trat das neue Bürgerliche Gesetzbuch. Daraus konnte natür¬
lich nicht folgen, daß das Römische Recht gänzlich von den Universitäten ver¬
wiesen wurde. Denn das neue Recht ist nicht ein von der bisherigen Rechts¬
wissenschaft losgelöstes Recht, sondern es steht auf deren Schultern und ganz
besonders auf denen des Römischen Rechts, dem ja die wissenschaftliche Er¬
forschung bisher in ganz besondern, Maße zuteil geworden war. Dazu kommt
der hohe Wert des Römischen Rechts als Mittel zur Einführung in die
Rechtsbegriffe, zur Ausbildung im juristischen Denken: der Wert der römischen
Jurisprudenz liegt ja gerade in der Begründung und Ausbildung der juristischen
Technik, das heißt der scharfen Erfassung, Sonderung und entsprechenden
Durchführung der einzelnen Elemente der Rechtsbegriffe und Rechtsverhältnisse,
in der genauen Scheidung der verschiednen rechtlichen Elemente, die in einem
Verhältnis liegen, in der strengen Verfolgung und Verbindung der einzelnen
rechtlichen Umstände. Diesem starren Begriffsformalismus verdanken wir die
scharfe Gliederung des Rechts bis in seine feinsten Einzelheiten hinein, die durch
das Römische Recht die Grundlage unsrer Wissenschaft geworden ist. Danach
konnte kein Zweifel sein, daß das Römische Recht auch weiter an den deutschen
Universitäten gelehrt werden würde. Aber die exegetische, "kritisch-philolvgisch-
antiquarische" Unterrichtsweise, in der bisher das Römische Recht gelehrt
wurde, wie sie oben eingehend geschildert ist, fiel nunmehr weg. Kenntnis
des geltenden Rechts -- wenn auch auf streng wissenschaftlicher Grundlage
und in ständigen Zusammenhang mit dem bisher geltend gewesnen Römischen
und Deutschen Recht -- dem Studierenden beizubringen, ist nunmehr die
Aufgabe des Universitätsunterrichts. Dieser soll den Grund legen für die
Erlangung der Fähigkeit, deren Besitz in voller Ausbildung der Vorzug des
reifen Praktikers vor dem bloßen Gelehrten ist, das ist die Fähigkeit, Rechts¬
sätze auf einen gegebnen Tatbestand anzuwenden, in diesem die "rechtserheb-
lichen Umstände" herauszufinden und in ihrer natürlichen Aufeinanderfolge
zu gruppieren, die Wechselwirkung der Rechtssütze aufeinander infolge der
jeweiligen tatsächlichen Gestaltung festzustellen, mit andern Worten: juristisch
zu urteilen.


5

Diese Fähigkeit, durch die sich der Praktiker vor dem bloßen Theoretiker
auszeichnet, konnte, solange das Römische Recht der Mittelpunkt des ganzen
Rechtsunterrichts war, und dieser selbst so erteilt wurde, als sollten sämtliche
Hörer zu Lehrern des Römischen Rechts erzogen werden, bei der Berufung
der Universitätslehrer kaum in Betracht kommen; es wurde früher nicht ein-


Die Zukunft der juristischen Professuren

ihnen eben den Mangel praktischer Anschauung nicht ersetzen könne, und daß
sie erst von der praktischen Anschauung mit Recht eine befruchtende Rück¬
wirkung auf die Theorie erwarten könnten.


4

Die Einführung des neuen bürgerlichen Rechts hatte neben der er¬
wähnten noch eine andre Umwälzung zur selbstverständlichen Folge: das
Römische Recht hörte auf, der Mittelpunkt des Rechtsunterrichts zu sein, und
an seine Stelle trat das neue Bürgerliche Gesetzbuch. Daraus konnte natür¬
lich nicht folgen, daß das Römische Recht gänzlich von den Universitäten ver¬
wiesen wurde. Denn das neue Recht ist nicht ein von der bisherigen Rechts¬
wissenschaft losgelöstes Recht, sondern es steht auf deren Schultern und ganz
besonders auf denen des Römischen Rechts, dem ja die wissenschaftliche Er¬
forschung bisher in ganz besondern, Maße zuteil geworden war. Dazu kommt
der hohe Wert des Römischen Rechts als Mittel zur Einführung in die
Rechtsbegriffe, zur Ausbildung im juristischen Denken: der Wert der römischen
Jurisprudenz liegt ja gerade in der Begründung und Ausbildung der juristischen
Technik, das heißt der scharfen Erfassung, Sonderung und entsprechenden
Durchführung der einzelnen Elemente der Rechtsbegriffe und Rechtsverhältnisse,
in der genauen Scheidung der verschiednen rechtlichen Elemente, die in einem
Verhältnis liegen, in der strengen Verfolgung und Verbindung der einzelnen
rechtlichen Umstände. Diesem starren Begriffsformalismus verdanken wir die
scharfe Gliederung des Rechts bis in seine feinsten Einzelheiten hinein, die durch
das Römische Recht die Grundlage unsrer Wissenschaft geworden ist. Danach
konnte kein Zweifel sein, daß das Römische Recht auch weiter an den deutschen
Universitäten gelehrt werden würde. Aber die exegetische, „kritisch-philolvgisch-
antiquarische" Unterrichtsweise, in der bisher das Römische Recht gelehrt
wurde, wie sie oben eingehend geschildert ist, fiel nunmehr weg. Kenntnis
des geltenden Rechts — wenn auch auf streng wissenschaftlicher Grundlage
und in ständigen Zusammenhang mit dem bisher geltend gewesnen Römischen
und Deutschen Recht — dem Studierenden beizubringen, ist nunmehr die
Aufgabe des Universitätsunterrichts. Dieser soll den Grund legen für die
Erlangung der Fähigkeit, deren Besitz in voller Ausbildung der Vorzug des
reifen Praktikers vor dem bloßen Gelehrten ist, das ist die Fähigkeit, Rechts¬
sätze auf einen gegebnen Tatbestand anzuwenden, in diesem die „rechtserheb-
lichen Umstände" herauszufinden und in ihrer natürlichen Aufeinanderfolge
zu gruppieren, die Wechselwirkung der Rechtssütze aufeinander infolge der
jeweiligen tatsächlichen Gestaltung festzustellen, mit andern Worten: juristisch
zu urteilen.


5

Diese Fähigkeit, durch die sich der Praktiker vor dem bloßen Theoretiker
auszeichnet, konnte, solange das Römische Recht der Mittelpunkt des ganzen
Rechtsunterrichts war, und dieser selbst so erteilt wurde, als sollten sämtliche
Hörer zu Lehrern des Römischen Rechts erzogen werden, bei der Berufung
der Universitätslehrer kaum in Betracht kommen; es wurde früher nicht ein-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0631" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294250"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Zukunft der juristischen Professuren</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2771" prev="#ID_2770"> ihnen eben den Mangel praktischer Anschauung nicht ersetzen könne, und daß<lb/>
sie erst von der praktischen Anschauung mit Recht eine befruchtende Rück¬<lb/>
wirkung auf die Theorie erwarten könnten.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 4</head><lb/>
            <p xml:id="ID_2772"> Die Einführung des neuen bürgerlichen Rechts hatte neben der er¬<lb/>
wähnten noch eine andre Umwälzung zur selbstverständlichen Folge: das<lb/>
Römische Recht hörte auf, der Mittelpunkt des Rechtsunterrichts zu sein, und<lb/>
an seine Stelle trat das neue Bürgerliche Gesetzbuch. Daraus konnte natür¬<lb/>
lich nicht folgen, daß das Römische Recht gänzlich von den Universitäten ver¬<lb/>
wiesen wurde. Denn das neue Recht ist nicht ein von der bisherigen Rechts¬<lb/>
wissenschaft losgelöstes Recht, sondern es steht auf deren Schultern und ganz<lb/>
besonders auf denen des Römischen Rechts, dem ja die wissenschaftliche Er¬<lb/>
forschung bisher in ganz besondern, Maße zuteil geworden war. Dazu kommt<lb/>
der hohe Wert des Römischen Rechts als Mittel zur Einführung in die<lb/>
Rechtsbegriffe, zur Ausbildung im juristischen Denken: der Wert der römischen<lb/>
Jurisprudenz liegt ja gerade in der Begründung und Ausbildung der juristischen<lb/>
Technik, das heißt der scharfen Erfassung, Sonderung und entsprechenden<lb/>
Durchführung der einzelnen Elemente der Rechtsbegriffe und Rechtsverhältnisse,<lb/>
in der genauen Scheidung der verschiednen rechtlichen Elemente, die in einem<lb/>
Verhältnis liegen, in der strengen Verfolgung und Verbindung der einzelnen<lb/>
rechtlichen Umstände. Diesem starren Begriffsformalismus verdanken wir die<lb/>
scharfe Gliederung des Rechts bis in seine feinsten Einzelheiten hinein, die durch<lb/>
das Römische Recht die Grundlage unsrer Wissenschaft geworden ist. Danach<lb/>
konnte kein Zweifel sein, daß das Römische Recht auch weiter an den deutschen<lb/>
Universitäten gelehrt werden würde. Aber die exegetische, &#x201E;kritisch-philolvgisch-<lb/>
antiquarische" Unterrichtsweise, in der bisher das Römische Recht gelehrt<lb/>
wurde, wie sie oben eingehend geschildert ist, fiel nunmehr weg. Kenntnis<lb/>
des geltenden Rechts &#x2014; wenn auch auf streng wissenschaftlicher Grundlage<lb/>
und in ständigen Zusammenhang mit dem bisher geltend gewesnen Römischen<lb/>
und Deutschen Recht &#x2014; dem Studierenden beizubringen, ist nunmehr die<lb/>
Aufgabe des Universitätsunterrichts. Dieser soll den Grund legen für die<lb/>
Erlangung der Fähigkeit, deren Besitz in voller Ausbildung der Vorzug des<lb/>
reifen Praktikers vor dem bloßen Gelehrten ist, das ist die Fähigkeit, Rechts¬<lb/>
sätze auf einen gegebnen Tatbestand anzuwenden, in diesem die &#x201E;rechtserheb-<lb/>
lichen Umstände" herauszufinden und in ihrer natürlichen Aufeinanderfolge<lb/>
zu gruppieren, die Wechselwirkung der Rechtssütze aufeinander infolge der<lb/>
jeweiligen tatsächlichen Gestaltung festzustellen, mit andern Worten: juristisch<lb/>
zu urteilen.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 5</head><lb/>
            <p xml:id="ID_2773" next="#ID_2774"> Diese Fähigkeit, durch die sich der Praktiker vor dem bloßen Theoretiker<lb/>
auszeichnet, konnte, solange das Römische Recht der Mittelpunkt des ganzen<lb/>
Rechtsunterrichts war, und dieser selbst so erteilt wurde, als sollten sämtliche<lb/>
Hörer zu Lehrern des Römischen Rechts erzogen werden, bei der Berufung<lb/>
der Universitätslehrer kaum in Betracht kommen; es wurde früher nicht ein-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0631] Die Zukunft der juristischen Professuren ihnen eben den Mangel praktischer Anschauung nicht ersetzen könne, und daß sie erst von der praktischen Anschauung mit Recht eine befruchtende Rück¬ wirkung auf die Theorie erwarten könnten. 4 Die Einführung des neuen bürgerlichen Rechts hatte neben der er¬ wähnten noch eine andre Umwälzung zur selbstverständlichen Folge: das Römische Recht hörte auf, der Mittelpunkt des Rechtsunterrichts zu sein, und an seine Stelle trat das neue Bürgerliche Gesetzbuch. Daraus konnte natür¬ lich nicht folgen, daß das Römische Recht gänzlich von den Universitäten ver¬ wiesen wurde. Denn das neue Recht ist nicht ein von der bisherigen Rechts¬ wissenschaft losgelöstes Recht, sondern es steht auf deren Schultern und ganz besonders auf denen des Römischen Rechts, dem ja die wissenschaftliche Er¬ forschung bisher in ganz besondern, Maße zuteil geworden war. Dazu kommt der hohe Wert des Römischen Rechts als Mittel zur Einführung in die Rechtsbegriffe, zur Ausbildung im juristischen Denken: der Wert der römischen Jurisprudenz liegt ja gerade in der Begründung und Ausbildung der juristischen Technik, das heißt der scharfen Erfassung, Sonderung und entsprechenden Durchführung der einzelnen Elemente der Rechtsbegriffe und Rechtsverhältnisse, in der genauen Scheidung der verschiednen rechtlichen Elemente, die in einem Verhältnis liegen, in der strengen Verfolgung und Verbindung der einzelnen rechtlichen Umstände. Diesem starren Begriffsformalismus verdanken wir die scharfe Gliederung des Rechts bis in seine feinsten Einzelheiten hinein, die durch das Römische Recht die Grundlage unsrer Wissenschaft geworden ist. Danach konnte kein Zweifel sein, daß das Römische Recht auch weiter an den deutschen Universitäten gelehrt werden würde. Aber die exegetische, „kritisch-philolvgisch- antiquarische" Unterrichtsweise, in der bisher das Römische Recht gelehrt wurde, wie sie oben eingehend geschildert ist, fiel nunmehr weg. Kenntnis des geltenden Rechts — wenn auch auf streng wissenschaftlicher Grundlage und in ständigen Zusammenhang mit dem bisher geltend gewesnen Römischen und Deutschen Recht — dem Studierenden beizubringen, ist nunmehr die Aufgabe des Universitätsunterrichts. Dieser soll den Grund legen für die Erlangung der Fähigkeit, deren Besitz in voller Ausbildung der Vorzug des reifen Praktikers vor dem bloßen Gelehrten ist, das ist die Fähigkeit, Rechts¬ sätze auf einen gegebnen Tatbestand anzuwenden, in diesem die „rechtserheb- lichen Umstände" herauszufinden und in ihrer natürlichen Aufeinanderfolge zu gruppieren, die Wechselwirkung der Rechtssütze aufeinander infolge der jeweiligen tatsächlichen Gestaltung festzustellen, mit andern Worten: juristisch zu urteilen. 5 Diese Fähigkeit, durch die sich der Praktiker vor dem bloßen Theoretiker auszeichnet, konnte, solange das Römische Recht der Mittelpunkt des ganzen Rechtsunterrichts war, und dieser selbst so erteilt wurde, als sollten sämtliche Hörer zu Lehrern des Römischen Rechts erzogen werden, bei der Berufung der Universitätslehrer kaum in Betracht kommen; es wurde früher nicht ein-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/631
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/631>, abgerufen am 03.05.2024.