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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Im Lande der tausend Seen

2. Scherenfahrt an der finnischen Südküste. Helsingfors

Um zwei Uhr Nachts lichtete der auf der Reede von Wiborg liegende
finnische Passagierdampfcr Swer Dufwa die Anker. Wir hatten uns am
Morgen im Schiffskontor Billette nach Helsingfors gelöst, nicht ohne unser
Bedenken auszusprechen über das gebrechliche Fahrzeug, dem wir unser Leben
anvertrauen sollten, und die Versicherung erhalten, daß von allen auf dieser
Strecke verkehrenden Küstendmnpfern Swer Dufwa ins offt sbix sei, eine
Auskunft, mit der wir uns zufrieden geben mußten. Die braven Leute hatten
recht, das Schiff war besser, als sein wenig Vertrauen erweckendes Äußere
versprach, die Kojen waren sauber und verhältnismäßig bequem, das Essen,
das in dem winzigen Speisesalon serviert wurde, wo man mit peinlicher
Sorgfalt vermieden hatte, durch elegante Ausstattung das Interesse der
Reisenden von den kulinarischen Genüssen abzuziehn, war bei geringem Preis
reichhaltig und gut, und was die Hauptsache war, Swer Dufwa hatte
eiuen ruhigen Gang, stampfte nicht, auch nicht, wenn wir einmal ausnahms¬
weise für kurze Zeit aus den Scheren (Inseln und Klippen) heraus in offnes
Fahrwcisfer kamen. Kurz, das Schiff trug seinen Namen nicht mit Unrecht;
Swer Dufwa, die eigentümliche Gestalt unter der Schar finnischer National¬
helden, die durch Nunebergs patriotische Lieder unsterblich geworden sind,
Swer Dufwa, der ans dem Schoße des finnischen Volks hervorgegcmgne
störrische ungelehrige Bauer, in dessen dicken Schädel der Gedanke an Rettung
durch die Flucht nicht eingeht, sodaß er ruhig auf der von der Übermacht des
heranstürmenden Feindes bedrohten Brücke Posto faßt und mit seiner vier¬
schrötiger Gestalt den Rückzug seines in wilder Flucht auseinander fliehenden
Heeres deckt, bis er, von unzähligen Bajonetten durchbohrt, endlich an der¬
selben Stelle, von der er nicht um einen Fuß breit gewichen ist, sterbend zu¬
sammenbricht:


Swer Dufwa tat wohl mancherlei, was sonst kein Kluger tut,
Wohl war sein Kopf nur schlecht bestellt, allein sein Herz war gut --

schließt der vaterländische Dichter seinen Heldengesang von dem Opfertod des
unbeholfnen finnischen Bauernsohns.

Der Finnländer liebt es, seinen Schiffen Namen aus der altfinnischen
Götterwelt oder aus der Schar seiner zum Teil mythischen Nationalhelden
zu geben. Auch die kleinen auf dem Wiborger See verkehrenden Dampfschiffe
tragen meist Namen aus der finnischen Sagenwelt.

Es mochte in der achten Stunde sein, als uns das Nicderrollen des
Ankers weckte. Ein Blick durch das schmale Kajütenfenster belehrte uns, daß
wir im Hafen von Fredrikshcnn waren, und wir beeilten uns, in unsre Kleider
und auf Deck zu kommen, um noch im Fluge einen Blick auf die an histo¬
rischen Erinnerungen so reiche ehemalige Festung zu werfen, unter deren
Mauern zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts mehrere bedeutende Seegefechte
stattgefunden haben, und wo 1809 der folgenschwere Friede geschlossen wurde,
durch den die politische Unabhängigkeit Finnlands von Schweden deklariert,
die hundert Jahre früher von Rußland eroberte Grenzprovinz Karelcn mit


Im Lande der tausend Seen

2. Scherenfahrt an der finnischen Südküste. Helsingfors

Um zwei Uhr Nachts lichtete der auf der Reede von Wiborg liegende
finnische Passagierdampfcr Swer Dufwa die Anker. Wir hatten uns am
Morgen im Schiffskontor Billette nach Helsingfors gelöst, nicht ohne unser
Bedenken auszusprechen über das gebrechliche Fahrzeug, dem wir unser Leben
anvertrauen sollten, und die Versicherung erhalten, daß von allen auf dieser
Strecke verkehrenden Küstendmnpfern Swer Dufwa ins offt sbix sei, eine
Auskunft, mit der wir uns zufrieden geben mußten. Die braven Leute hatten
recht, das Schiff war besser, als sein wenig Vertrauen erweckendes Äußere
versprach, die Kojen waren sauber und verhältnismäßig bequem, das Essen,
das in dem winzigen Speisesalon serviert wurde, wo man mit peinlicher
Sorgfalt vermieden hatte, durch elegante Ausstattung das Interesse der
Reisenden von den kulinarischen Genüssen abzuziehn, war bei geringem Preis
reichhaltig und gut, und was die Hauptsache war, Swer Dufwa hatte
eiuen ruhigen Gang, stampfte nicht, auch nicht, wenn wir einmal ausnahms¬
weise für kurze Zeit aus den Scheren (Inseln und Klippen) heraus in offnes
Fahrwcisfer kamen. Kurz, das Schiff trug seinen Namen nicht mit Unrecht;
Swer Dufwa, die eigentümliche Gestalt unter der Schar finnischer National¬
helden, die durch Nunebergs patriotische Lieder unsterblich geworden sind,
Swer Dufwa, der ans dem Schoße des finnischen Volks hervorgegcmgne
störrische ungelehrige Bauer, in dessen dicken Schädel der Gedanke an Rettung
durch die Flucht nicht eingeht, sodaß er ruhig auf der von der Übermacht des
heranstürmenden Feindes bedrohten Brücke Posto faßt und mit seiner vier¬
schrötiger Gestalt den Rückzug seines in wilder Flucht auseinander fliehenden
Heeres deckt, bis er, von unzähligen Bajonetten durchbohrt, endlich an der¬
selben Stelle, von der er nicht um einen Fuß breit gewichen ist, sterbend zu¬
sammenbricht:


Swer Dufwa tat wohl mancherlei, was sonst kein Kluger tut,
Wohl war sein Kopf nur schlecht bestellt, allein sein Herz war gut —

schließt der vaterländische Dichter seinen Heldengesang von dem Opfertod des
unbeholfnen finnischen Bauernsohns.

Der Finnländer liebt es, seinen Schiffen Namen aus der altfinnischen
Götterwelt oder aus der Schar seiner zum Teil mythischen Nationalhelden
zu geben. Auch die kleinen auf dem Wiborger See verkehrenden Dampfschiffe
tragen meist Namen aus der finnischen Sagenwelt.

Es mochte in der achten Stunde sein, als uns das Nicderrollen des
Ankers weckte. Ein Blick durch das schmale Kajütenfenster belehrte uns, daß
wir im Hafen von Fredrikshcnn waren, und wir beeilten uns, in unsre Kleider
und auf Deck zu kommen, um noch im Fluge einen Blick auf die an histo¬
rischen Erinnerungen so reiche ehemalige Festung zu werfen, unter deren
Mauern zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts mehrere bedeutende Seegefechte
stattgefunden haben, und wo 1809 der folgenschwere Friede geschlossen wurde,
durch den die politische Unabhängigkeit Finnlands von Schweden deklariert,
die hundert Jahre früher von Rußland eroberte Grenzprovinz Karelcn mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/112>, abgerufen am 28.04.2024.