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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Die christliche Mystik und die Religion der Zukunft

Torf für den Herd, und wie um die Töpfe mit Speisen, die Hütten mit
Duft und die Herzen mit Behagen zu füllen, lieferte das Meer bald eine
Ladung Bordeauxwein, Sirup, Essig, Kastanien und getrocknete Früchte in
zerbrochnen Schiffe, bald warf es übermütig Tausende von Apfelsinen und
Zitronen um die Weihnachtzeit auf den winterlichen Strand, dann wieder
Weizen und Hafer aus Schleswig-Holstein, Butter aus Irland, Gewürze aus
Indien, Dünnbier und Braunschweigische Mumme, Sekt und Rheinwein. Und
mit Nesseltuch und Kattun, Linnen und Damast, Wollgarn und Seiden¬
zeug lohnte es den Fleiß der Eiländerinnen, die oft mit Männerkraft das
Strandgut bargen, wenn die Männer der Insel auf dem Fischfang oder
auf Reisen waren. Bunt wie das Strandgut war auch die Handhabung des
Strandrechts ^ .




Die christliche Mystik und die Religion der Zukunft

pein heißt sich schließen; Mysterium ist also das Unzugängliche.
Das unserm Erkenntnisvermögen Unzugänglichste ist der Welt¬
grund, das, was die Welt im Innersten zusammenheilt, die Wurzel
unsers eignen Daseins und das unbekannte Ziel unsers Strebens.
Das Ergreifen dieses Unzugänglichen und trotzdem als einiger¬
maßen zugänglich Vorausgesetzten mit dem Gemüte nennen wir Religion, und
darum ist alle Religion Mystik, wie Wilhelm Preger in der Encyklopädie für
protestantische Theologie richtig sagt. Er stellt auch u. a. dar, wie sich die
Mystik bei Individuen und bei Völkern und in verschiednen Zeitaltern verschieden
gestaltet, je nachdem sich die eine oder die andre Seelenkraft aus der Einheit
des Gemüts loslöst und den Verkehr mit der Gottheit beherrscht oder aus¬
schließlich betreibt, was dann gewöhnlich zu Ausschreitungen und Verirrungen
führt. Ist der Intellekt tütig, so schafft er, über den Ausgang der Welt aus
Gott und ihre Rückkehr in ihn spekulierend, theosophische Lehrgebäude wie die der
Neuplatoniker und der Gnostiker. Die Phantasie erzeugt Visionen. Das Gefühl
sucht Seligkeit in quietistischer Ruhe oder in wollüstigen Regungen. Der Wille
versucht die Gottheit in seinen Dienst zu zwingen durch Selbstpeinigung oder
durch Magie und durch Zauber oder strebt fanatisch, mit Zwang die andern
seinem Gott zu unterwerfen. Wir Neuern nun sind gewöhnt, bei dem Worte
Mysterium eben an das Geheimnis aller Geheimnisse zu denken; dort, wo die
Bezeichnung entstanden ist, dachte man dabei zunächst an die Bräuche und die
Feierlichkeiten, die der Myste, der Eingeweihte, geheim zu halten verpflichtet
wurde. Doch haben überall, nicht bloß in der griechisch-römischen Welt, sondern
auch bei Völkern, denen das Stammwort myein und seine Ableitungen unbe¬
kannt waren, immer beide Vorstellungsweisen bestanden und ineinander einge¬
griffen. In jeder Religion sind von der Priesterschaft oder den privilegierten
Wissenden oder in Sekten und in Konventikeln Versuche gemacht worden, die Masse


Die christliche Mystik und die Religion der Zukunft

Torf für den Herd, und wie um die Töpfe mit Speisen, die Hütten mit
Duft und die Herzen mit Behagen zu füllen, lieferte das Meer bald eine
Ladung Bordeauxwein, Sirup, Essig, Kastanien und getrocknete Früchte in
zerbrochnen Schiffe, bald warf es übermütig Tausende von Apfelsinen und
Zitronen um die Weihnachtzeit auf den winterlichen Strand, dann wieder
Weizen und Hafer aus Schleswig-Holstein, Butter aus Irland, Gewürze aus
Indien, Dünnbier und Braunschweigische Mumme, Sekt und Rheinwein. Und
mit Nesseltuch und Kattun, Linnen und Damast, Wollgarn und Seiden¬
zeug lohnte es den Fleiß der Eiländerinnen, die oft mit Männerkraft das
Strandgut bargen, wenn die Männer der Insel auf dem Fischfang oder
auf Reisen waren. Bunt wie das Strandgut war auch die Handhabung des
Strandrechts ^ .




Die christliche Mystik und die Religion der Zukunft

pein heißt sich schließen; Mysterium ist also das Unzugängliche.
Das unserm Erkenntnisvermögen Unzugänglichste ist der Welt¬
grund, das, was die Welt im Innersten zusammenheilt, die Wurzel
unsers eignen Daseins und das unbekannte Ziel unsers Strebens.
Das Ergreifen dieses Unzugänglichen und trotzdem als einiger¬
maßen zugänglich Vorausgesetzten mit dem Gemüte nennen wir Religion, und
darum ist alle Religion Mystik, wie Wilhelm Preger in der Encyklopädie für
protestantische Theologie richtig sagt. Er stellt auch u. a. dar, wie sich die
Mystik bei Individuen und bei Völkern und in verschiednen Zeitaltern verschieden
gestaltet, je nachdem sich die eine oder die andre Seelenkraft aus der Einheit
des Gemüts loslöst und den Verkehr mit der Gottheit beherrscht oder aus¬
schließlich betreibt, was dann gewöhnlich zu Ausschreitungen und Verirrungen
führt. Ist der Intellekt tütig, so schafft er, über den Ausgang der Welt aus
Gott und ihre Rückkehr in ihn spekulierend, theosophische Lehrgebäude wie die der
Neuplatoniker und der Gnostiker. Die Phantasie erzeugt Visionen. Das Gefühl
sucht Seligkeit in quietistischer Ruhe oder in wollüstigen Regungen. Der Wille
versucht die Gottheit in seinen Dienst zu zwingen durch Selbstpeinigung oder
durch Magie und durch Zauber oder strebt fanatisch, mit Zwang die andern
seinem Gott zu unterwerfen. Wir Neuern nun sind gewöhnt, bei dem Worte
Mysterium eben an das Geheimnis aller Geheimnisse zu denken; dort, wo die
Bezeichnung entstanden ist, dachte man dabei zunächst an die Bräuche und die
Feierlichkeiten, die der Myste, der Eingeweihte, geheim zu halten verpflichtet
wurde. Doch haben überall, nicht bloß in der griechisch-römischen Welt, sondern
auch bei Völkern, denen das Stammwort myein und seine Ableitungen unbe¬
kannt waren, immer beide Vorstellungsweisen bestanden und ineinander einge¬
griffen. In jeder Religion sind von der Priesterschaft oder den privilegierten
Wissenden oder in Sekten und in Konventikeln Versuche gemacht worden, die Masse


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/400>, abgerufen am 28.04.2024.