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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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norddeutsche Romane und Novellen

es der Negierung in vierundvierzig Jahren nicht nur nicht gelungen sei, die
Kamorra zu unterdrücken, sondern daß sie ihrer noch nicht einmal in den Gefäng¬
nissen Neapels Herr geworden sei. Bei einer solchen Lage der Dinge begreift
man, daß der gewöhnliche Neapolitaner in der Kamorra die stärkere Organi¬
sation sieht und ihr lieber gehorcht als den Staatsgesetzen. Daher leitet sich
dann die Tatsache her, daß die Kamorra unterstützt wird, und daß der Polizei
alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt werden.




norddeutsche Romane und Novellen

ans Delbrück hat einmal geistreich ausgeführt, daß die Grenze
zwischen Ost- und Westdeutschland, ja zwischen Ost- und West¬
europa, auf dem Berliner Alexanderplatz läge. Sollte ich in
ähnlich prägnanter Weise den Grenzstrich zwischen Nord- und
Süddeutschland festlegen, so würde ich ihn etwa über den Leip¬
ziger Markt führen. Gellerts Denkmal und Richard Wagners Geburtshaus
blieben im Norden, Schumanns Denkstein und Auerbachs Keller im Süden,
und der junge Goethe und Siemerings Siegesdenkmal lügen gerade in der
Mitte. Ich will heute im Norden Umschau halten und nur von Werken mit
recht norddeutschen Charakter sprechen. Und da muß ich zunächst über eine
freudige Überraschung reden, die mir das Buch eines mir bisher ganz unbekannt
gebliebner Verfassers bereitet hat: "Imme" von Ernst Dcchlmcmn (Leipzig 1903,
Atom Schmidt). Denn dieser Roman ist gut, von glücklichem Humor erfüllt
und gerade so weit naturalistisch, daß er uns das Volk des Vorharzes recht
deutlich vor Augen stellt. Er ist noch kein reines, reifes Kunstwerk, und ich
könnte Stellen bezeichnen, deren Unausgeglichenheit einer Glüttnng von feiner
Künstlerhand bedürftig wäre. Aber der Eindruck des Ganzen ist erfreulich, der
Roman steht entschieden über der Stufe bloßer Unterhaltungslektüre und gibt
z. B. in der Gestalt Andreas Liehoffs, des Ortsvorstehers zu Bornum, eine
rund gemeißelte Figur voll köstlichen Humors. Dorfszenen, wie die ans der
Spinnstube oder die Gemeindeversammlung, sind trefflich beobachtet und sicher
wiedergegeben. Kurz, das ganze Werk ist ein Versprechen auf reichere Gaben
der Zukunft, es spannt auf das, was Ernst Dcchlmcmn noch zu sagen hat.

Künstlerisch gehaltner, freilich auch weniger unmittelbar als Ernst Dcchl¬
mcmn wirkt Gerhard Ouckama Knoop in seinem neuen Roman "Hermann
Osleb" (Berlin 1904, Egon Fleischel K Comp.). Hermann Osleb ist im Grunde
genommen ein uninteressanter Mensch, ein in gedrückten materiellen und
Psychischen Zustünden aufgcwachsner junger hansischer Kaufmann, den ein
reicher, derber Oheim fördern will, und dem dann doch erst die Liebe in den
Sattel hilft. So ist das Buch, das von Hermann Osleb in einem ruhigen,
ein wenig kaufmännischen Stil erzählt, zuerst auch nicht interessant, ja, offen
gesagt, ein gut Teil langweilig. Aber Knoop bleibt nicht in diesem allzu


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es der Negierung in vierundvierzig Jahren nicht nur nicht gelungen sei, die
Kamorra zu unterdrücken, sondern daß sie ihrer noch nicht einmal in den Gefäng¬
nissen Neapels Herr geworden sei. Bei einer solchen Lage der Dinge begreift
man, daß der gewöhnliche Neapolitaner in der Kamorra die stärkere Organi¬
sation sieht und ihr lieber gehorcht als den Staatsgesetzen. Daher leitet sich
dann die Tatsache her, daß die Kamorra unterstützt wird, und daß der Polizei
alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt werden.




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ans Delbrück hat einmal geistreich ausgeführt, daß die Grenze
zwischen Ost- und Westdeutschland, ja zwischen Ost- und West¬
europa, auf dem Berliner Alexanderplatz läge. Sollte ich in
ähnlich prägnanter Weise den Grenzstrich zwischen Nord- und
Süddeutschland festlegen, so würde ich ihn etwa über den Leip¬
ziger Markt führen. Gellerts Denkmal und Richard Wagners Geburtshaus
blieben im Norden, Schumanns Denkstein und Auerbachs Keller im Süden,
und der junge Goethe und Siemerings Siegesdenkmal lügen gerade in der
Mitte. Ich will heute im Norden Umschau halten und nur von Werken mit
recht norddeutschen Charakter sprechen. Und da muß ich zunächst über eine
freudige Überraschung reden, die mir das Buch eines mir bisher ganz unbekannt
gebliebner Verfassers bereitet hat: „Imme" von Ernst Dcchlmcmn (Leipzig 1903,
Atom Schmidt). Denn dieser Roman ist gut, von glücklichem Humor erfüllt
und gerade so weit naturalistisch, daß er uns das Volk des Vorharzes recht
deutlich vor Augen stellt. Er ist noch kein reines, reifes Kunstwerk, und ich
könnte Stellen bezeichnen, deren Unausgeglichenheit einer Glüttnng von feiner
Künstlerhand bedürftig wäre. Aber der Eindruck des Ganzen ist erfreulich, der
Roman steht entschieden über der Stufe bloßer Unterhaltungslektüre und gibt
z. B. in der Gestalt Andreas Liehoffs, des Ortsvorstehers zu Bornum, eine
rund gemeißelte Figur voll köstlichen Humors. Dorfszenen, wie die ans der
Spinnstube oder die Gemeindeversammlung, sind trefflich beobachtet und sicher
wiedergegeben. Kurz, das ganze Werk ist ein Versprechen auf reichere Gaben
der Zukunft, es spannt auf das, was Ernst Dcchlmcmn noch zu sagen hat.

Künstlerisch gehaltner, freilich auch weniger unmittelbar als Ernst Dcchl¬
mcmn wirkt Gerhard Ouckama Knoop in seinem neuen Roman „Hermann
Osleb" (Berlin 1904, Egon Fleischel K Comp.). Hermann Osleb ist im Grunde
genommen ein uninteressanter Mensch, ein in gedrückten materiellen und
Psychischen Zustünden aufgcwachsner junger hansischer Kaufmann, den ein
reicher, derber Oheim fördern will, und dem dann doch erst die Liebe in den
Sattel hilft. So ist das Buch, das von Hermann Osleb in einem ruhigen,
ein wenig kaufmännischen Stil erzählt, zuerst auch nicht interessant, ja, offen
gesagt, ein gut Teil langweilig. Aber Knoop bleibt nicht in diesem allzu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/652>, abgerufen am 27.04.2024.