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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Die Amerikaner

las so betitelte Buch") ist der großen Aufgabe gewidmet, zwei
der größten Völker der heutigen Kulturwelt einander näher z"
bringen, verständlicher zu machen. Wir haben in diesen Heften
die Bücher von Potenz, Goldberger und andern besprochen, die
laues diese Angelegenheit fördern wollen. Sie alle überragt
Münsterberg in dem einen, daß er seit vielen Jahren mitten im amerikanischen
Leben steht, und daß er darum doch Deutschland kaum weniger gut kennt, wo
er geboren und gebildet worden ist, dessen Schulung ihm zu der rühmlichen
Stelle eines Professors an der Harvard-Universität verholfen hat.

Trotzdem daß Professor Münsterberg gleich nach dem Erscheinen seines
Buches von deutscher Seite heftig angegriffen worden ist, stellen wir uns die
Aufgabe, sein Buch ganz unbefangen zu betrachten. Einige von diesen An¬
griffen haben uns eher geneigt gemacht, dem Verfasser von vornherein mit der
Überzeugung zu begegnen, daß er sich alle Mühe gegeben habe, gerecht, un¬
voreingenommen zu sein. Die Stellung der Deutschamerikaner zu den Ameri¬
kanern und die Stellung des deutschen Volkes im ganzen in der heutigen
Kulturwelt sind so verwickelt, daß viele andre gar nicht den Mut gehabt hätten,
daran zu greifen. Es ist unmöglich, die Mängel gerade der Deutschamerikaner
zu übersehen, und es ist ebensowenig möglich, die Nachteile zu verkennen, denen
die Stellung der Deutschen in der Welt im allgemeinen ausgesetzt ist. Es
müssen bittere Wahrheiten gesagt werden, wenn von diesen Dingen ehrlich ge¬
redet werden soll. Eine andre Frage ist es, ob gerade ein deutscher Professor,
dessen Zukunft offenbar in seinem rückhaltlosen Anschluß an das amerikanische
Kulturideal liegt, der berufenste sei, einen Vergleich zwischen seinen neuen und
seinen alten Landsleuten zu ziehn. Wird er nicht geneigt sein, die Verhältnisse,
die er hinter sich hat, durch die Brille der neuen zu betrachten, in deren Mitte
und denen so nahe er steht, daß er vielleicht gar nicht die richtige Perspektive
für ihre Beurteilung finden kann?

Eine ganz andre, größere Frage ist die: Ist es überhaupt möglich, die
Seele eines Volkes zu analysieren, das so im Werden ist wie das nordameri¬
kanische? Verändert nicht in einem werdenden Volke das Emporwachsen immer
neuer Schichten zur tätigen Oberfläche beständig die Kräfte, die aus dem
Innern heraus strahlen und wirken? Die Einwanderung, die Ausbreitung



*) Die Amerikaner. Von Hugo Münsterberg, Professor an der Harvard-Universität.
1- bis 3. Auflage. Erster Band: Das politische und wirtschaftliche Leben. Zweiter Band: Das
geistige und soziale Leben. Berlin 1904, E. S. Mittler und Sohn. Besprochen von Friedrich
Ratzel -- der letzte Artikel, den er für die Grenzboien geschrieben hat.


Die Amerikaner

las so betitelte Buch") ist der großen Aufgabe gewidmet, zwei
der größten Völker der heutigen Kulturwelt einander näher z»
bringen, verständlicher zu machen. Wir haben in diesen Heften
die Bücher von Potenz, Goldberger und andern besprochen, die
laues diese Angelegenheit fördern wollen. Sie alle überragt
Münsterberg in dem einen, daß er seit vielen Jahren mitten im amerikanischen
Leben steht, und daß er darum doch Deutschland kaum weniger gut kennt, wo
er geboren und gebildet worden ist, dessen Schulung ihm zu der rühmlichen
Stelle eines Professors an der Harvard-Universität verholfen hat.

Trotzdem daß Professor Münsterberg gleich nach dem Erscheinen seines
Buches von deutscher Seite heftig angegriffen worden ist, stellen wir uns die
Aufgabe, sein Buch ganz unbefangen zu betrachten. Einige von diesen An¬
griffen haben uns eher geneigt gemacht, dem Verfasser von vornherein mit der
Überzeugung zu begegnen, daß er sich alle Mühe gegeben habe, gerecht, un¬
voreingenommen zu sein. Die Stellung der Deutschamerikaner zu den Ameri¬
kanern und die Stellung des deutschen Volkes im ganzen in der heutigen
Kulturwelt sind so verwickelt, daß viele andre gar nicht den Mut gehabt hätten,
daran zu greifen. Es ist unmöglich, die Mängel gerade der Deutschamerikaner
zu übersehen, und es ist ebensowenig möglich, die Nachteile zu verkennen, denen
die Stellung der Deutschen in der Welt im allgemeinen ausgesetzt ist. Es
müssen bittere Wahrheiten gesagt werden, wenn von diesen Dingen ehrlich ge¬
redet werden soll. Eine andre Frage ist es, ob gerade ein deutscher Professor,
dessen Zukunft offenbar in seinem rückhaltlosen Anschluß an das amerikanische
Kulturideal liegt, der berufenste sei, einen Vergleich zwischen seinen neuen und
seinen alten Landsleuten zu ziehn. Wird er nicht geneigt sein, die Verhältnisse,
die er hinter sich hat, durch die Brille der neuen zu betrachten, in deren Mitte
und denen so nahe er steht, daß er vielleicht gar nicht die richtige Perspektive
für ihre Beurteilung finden kann?

Eine ganz andre, größere Frage ist die: Ist es überhaupt möglich, die
Seele eines Volkes zu analysieren, das so im Werden ist wie das nordameri¬
kanische? Verändert nicht in einem werdenden Volke das Emporwachsen immer
neuer Schichten zur tätigen Oberfläche beständig die Kräfte, die aus dem
Innern heraus strahlen und wirken? Die Einwanderung, die Ausbreitung



*) Die Amerikaner. Von Hugo Münsterberg, Professor an der Harvard-Universität.
1- bis 3. Auflage. Erster Band: Das politische und wirtschaftliche Leben. Zweiter Band: Das
geistige und soziale Leben. Berlin 1904, E. S. Mittler und Sohn. Besprochen von Friedrich
Ratzel — der letzte Artikel, den er für die Grenzboien geschrieben hat.
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[0765] [Abbildung] Die Amerikaner las so betitelte Buch") ist der großen Aufgabe gewidmet, zwei der größten Völker der heutigen Kulturwelt einander näher z» bringen, verständlicher zu machen. Wir haben in diesen Heften die Bücher von Potenz, Goldberger und andern besprochen, die laues diese Angelegenheit fördern wollen. Sie alle überragt Münsterberg in dem einen, daß er seit vielen Jahren mitten im amerikanischen Leben steht, und daß er darum doch Deutschland kaum weniger gut kennt, wo er geboren und gebildet worden ist, dessen Schulung ihm zu der rühmlichen Stelle eines Professors an der Harvard-Universität verholfen hat. Trotzdem daß Professor Münsterberg gleich nach dem Erscheinen seines Buches von deutscher Seite heftig angegriffen worden ist, stellen wir uns die Aufgabe, sein Buch ganz unbefangen zu betrachten. Einige von diesen An¬ griffen haben uns eher geneigt gemacht, dem Verfasser von vornherein mit der Überzeugung zu begegnen, daß er sich alle Mühe gegeben habe, gerecht, un¬ voreingenommen zu sein. Die Stellung der Deutschamerikaner zu den Ameri¬ kanern und die Stellung des deutschen Volkes im ganzen in der heutigen Kulturwelt sind so verwickelt, daß viele andre gar nicht den Mut gehabt hätten, daran zu greifen. Es ist unmöglich, die Mängel gerade der Deutschamerikaner zu übersehen, und es ist ebensowenig möglich, die Nachteile zu verkennen, denen die Stellung der Deutschen in der Welt im allgemeinen ausgesetzt ist. Es müssen bittere Wahrheiten gesagt werden, wenn von diesen Dingen ehrlich ge¬ redet werden soll. Eine andre Frage ist es, ob gerade ein deutscher Professor, dessen Zukunft offenbar in seinem rückhaltlosen Anschluß an das amerikanische Kulturideal liegt, der berufenste sei, einen Vergleich zwischen seinen neuen und seinen alten Landsleuten zu ziehn. Wird er nicht geneigt sein, die Verhältnisse, die er hinter sich hat, durch die Brille der neuen zu betrachten, in deren Mitte und denen so nahe er steht, daß er vielleicht gar nicht die richtige Perspektive für ihre Beurteilung finden kann? Eine ganz andre, größere Frage ist die: Ist es überhaupt möglich, die Seele eines Volkes zu analysieren, das so im Werden ist wie das nordameri¬ kanische? Verändert nicht in einem werdenden Volke das Emporwachsen immer neuer Schichten zur tätigen Oberfläche beständig die Kräfte, die aus dem Innern heraus strahlen und wirken? Die Einwanderung, die Ausbreitung *) Die Amerikaner. Von Hugo Münsterberg, Professor an der Harvard-Universität. 1- bis 3. Auflage. Erster Band: Das politische und wirtschaftliche Leben. Zweiter Band: Das geistige und soziale Leben. Berlin 1904, E. S. Mittler und Sohn. Besprochen von Friedrich Ratzel — der letzte Artikel, den er für die Grenzboien geschrieben hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/765>, abgerufen am 27.04.2024.