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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

dem erwähnten Auszuge in Freytags "Bildern" nachlesen. Hier sei nur noch
erwähnt, daß sich der Herzog nach Sastrows Bericht später zu Tode trank und
Gemahlin und Kinder in der äußersten Not zurückließ.

(Schluß folgt)




Glücksinseln und Träume
Friedrich Ratzel von(Fortsetzung)
2. Anabenjahre

Seit der ersten Kindheit, wieviel tausend
verschwimmende Gestalten von kleinen Ge¬
danken, Ahnungen -- dann halbgeborne
Dichtungen, Träume, Ideen Kleinode von
,
Adalbert Stifter
Empfindungen , . ,

1

as ist die Poesie der Jugend? Vergangenheit! Ich vergleiche sie
den blauen Bergen in der Ferne, den ungreifbaren Wolken des
Sonnenaufgangs und Untergangs, der kristallnen Tiefe des Welt¬
meers, dem vergangnen Frühling, kurz dem Fernen und dem Vor¬
gestrigen, allem, was nur aus der Entfernung herlenchtet. Man mag
von Leuten sagen, sie Hütten sich ihre Jugend bewahrt, von Greisen
sogar, sie Hütten sich verjüngt: mit echter Jugend hat das nichts zu tun, die
kommt in jeden: Leben nur einmal vor. Wie Knospen und Blühen ihre Zeit
haben, hat Jugend ihre Zeit. Und wie die Rose eben deshalb so schön ist, weil
sie es nicht weiß, und so wie die Berge nicht blau sind, wenn wir vor ihnen
stehn, und der Horizont nicht silbern, wenn unser Schifflein ihn durchschneidet, so
wird uns die Poesie in der Jugend erst bewußt, wenn sie schon lange hinter uns
liegt. Ich will damit nicht sagen, daß diese Poesie nur Schein sei. Im Gegenteil,
Jugend selbst ist lebende Poesie, lebendig im Innersten eines werdenden Menschen,
aus dem sie' alle Poesie, die draußen in der Welt, in der Natur, in den Menschen
und ihren Geschicken lebt, an sich zieht, sodaß die Kinderseele mehr draußen als
drinnen ist und sich mächtig von der Poesie des Außenlebeus nährt. Die Kind¬
heit des Einzelnen gleicht darin der Kindheit der Menschheit, daß sie ganz in
ihrer Umwelt aufgeht, mit ihr eins ist, und auch darin, daß sie sich dann aus
dieser Naturverflechtuug und Naturbeseeluug unter tausend schmerzlichen Kämpfen
wieder loslösen muß, bis der naturlose Mensch hergestellt ist, den man "brauchen
kann." Wie oft ist in jenen Jahren das Gefühl in mir wiedergekehrt von einer
Welt, die jenseits der engen meinen zu entdecken sei, und nach der hin Gedanken
und Empfindungen ohne Namen und Ziel ins Unbekannte flogen? Und sie kehrten
immer zurück und hatten kein Land gesehen! Aber wenn ich weit, weit hinein in
einen blauen Himmel sehe, bis er zu zerfließen und immer tiefer heruuterzu-
schweben scheint, dann meine ich wohl auch heute "och ein fernes Singen und
Jauchzen zu hören und wähne, mein Jugendland müsse dort unten am Horizont
aufsteigen, wo die Wolken wie silberne Inseln liegen.

Voll Leben waren die vier engen Wände, in denen ich aufwuchs. Die
Tapete des Zimmers, wo ich schlief, in Form und Farbe Erzeugnis einer kümmer¬
lichen Phantasie: braune Ränkchen auf gelbem Grunde, denen Figuren entsprossen,
die nicht Blumen und nicht Tier waren und sich deswegen meinem Traumsinn als


Glücksinseln und Träume

dem erwähnten Auszuge in Freytags „Bildern" nachlesen. Hier sei nur noch
erwähnt, daß sich der Herzog nach Sastrows Bericht später zu Tode trank und
Gemahlin und Kinder in der äußersten Not zurückließ.

(Schluß folgt)




Glücksinseln und Träume
Friedrich Ratzel von(Fortsetzung)
2. Anabenjahre

Seit der ersten Kindheit, wieviel tausend
verschwimmende Gestalten von kleinen Ge¬
danken, Ahnungen — dann halbgeborne
Dichtungen, Träume, Ideen Kleinode von
,
Adalbert Stifter
Empfindungen , . ,

1

as ist die Poesie der Jugend? Vergangenheit! Ich vergleiche sie
den blauen Bergen in der Ferne, den ungreifbaren Wolken des
Sonnenaufgangs und Untergangs, der kristallnen Tiefe des Welt¬
meers, dem vergangnen Frühling, kurz dem Fernen und dem Vor¬
gestrigen, allem, was nur aus der Entfernung herlenchtet. Man mag
von Leuten sagen, sie Hütten sich ihre Jugend bewahrt, von Greisen
sogar, sie Hütten sich verjüngt: mit echter Jugend hat das nichts zu tun, die
kommt in jeden: Leben nur einmal vor. Wie Knospen und Blühen ihre Zeit
haben, hat Jugend ihre Zeit. Und wie die Rose eben deshalb so schön ist, weil
sie es nicht weiß, und so wie die Berge nicht blau sind, wenn wir vor ihnen
stehn, und der Horizont nicht silbern, wenn unser Schifflein ihn durchschneidet, so
wird uns die Poesie in der Jugend erst bewußt, wenn sie schon lange hinter uns
liegt. Ich will damit nicht sagen, daß diese Poesie nur Schein sei. Im Gegenteil,
Jugend selbst ist lebende Poesie, lebendig im Innersten eines werdenden Menschen,
aus dem sie' alle Poesie, die draußen in der Welt, in der Natur, in den Menschen
und ihren Geschicken lebt, an sich zieht, sodaß die Kinderseele mehr draußen als
drinnen ist und sich mächtig von der Poesie des Außenlebeus nährt. Die Kind¬
heit des Einzelnen gleicht darin der Kindheit der Menschheit, daß sie ganz in
ihrer Umwelt aufgeht, mit ihr eins ist, und auch darin, daß sie sich dann aus
dieser Naturverflechtuug und Naturbeseeluug unter tausend schmerzlichen Kämpfen
wieder loslösen muß, bis der naturlose Mensch hergestellt ist, den man „brauchen
kann." Wie oft ist in jenen Jahren das Gefühl in mir wiedergekehrt von einer
Welt, die jenseits der engen meinen zu entdecken sei, und nach der hin Gedanken
und Empfindungen ohne Namen und Ziel ins Unbekannte flogen? Und sie kehrten
immer zurück und hatten kein Land gesehen! Aber wenn ich weit, weit hinein in
einen blauen Himmel sehe, bis er zu zerfließen und immer tiefer heruuterzu-
schweben scheint, dann meine ich wohl auch heute »och ein fernes Singen und
Jauchzen zu hören und wähne, mein Jugendland müsse dort unten am Horizont
aufsteigen, wo die Wolken wie silberne Inseln liegen.

Voll Leben waren die vier engen Wände, in denen ich aufwuchs. Die
Tapete des Zimmers, wo ich schlief, in Form und Farbe Erzeugnis einer kümmer¬
lichen Phantasie: braune Ränkchen auf gelbem Grunde, denen Figuren entsprossen,
die nicht Blumen und nicht Tier waren und sich deswegen meinem Traumsinn als


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[0102] Glücksinseln und Träume dem erwähnten Auszuge in Freytags „Bildern" nachlesen. Hier sei nur noch erwähnt, daß sich der Herzog nach Sastrows Bericht später zu Tode trank und Gemahlin und Kinder in der äußersten Not zurückließ. (Schluß folgt) Glücksinseln und Träume Friedrich Ratzel von(Fortsetzung) 2. Anabenjahre Seit der ersten Kindheit, wieviel tausend verschwimmende Gestalten von kleinen Ge¬ danken, Ahnungen — dann halbgeborne Dichtungen, Träume, Ideen Kleinode von , Adalbert Stifter Empfindungen , . , 1 as ist die Poesie der Jugend? Vergangenheit! Ich vergleiche sie den blauen Bergen in der Ferne, den ungreifbaren Wolken des Sonnenaufgangs und Untergangs, der kristallnen Tiefe des Welt¬ meers, dem vergangnen Frühling, kurz dem Fernen und dem Vor¬ gestrigen, allem, was nur aus der Entfernung herlenchtet. Man mag von Leuten sagen, sie Hütten sich ihre Jugend bewahrt, von Greisen sogar, sie Hütten sich verjüngt: mit echter Jugend hat das nichts zu tun, die kommt in jeden: Leben nur einmal vor. Wie Knospen und Blühen ihre Zeit haben, hat Jugend ihre Zeit. Und wie die Rose eben deshalb so schön ist, weil sie es nicht weiß, und so wie die Berge nicht blau sind, wenn wir vor ihnen stehn, und der Horizont nicht silbern, wenn unser Schifflein ihn durchschneidet, so wird uns die Poesie in der Jugend erst bewußt, wenn sie schon lange hinter uns liegt. Ich will damit nicht sagen, daß diese Poesie nur Schein sei. Im Gegenteil, Jugend selbst ist lebende Poesie, lebendig im Innersten eines werdenden Menschen, aus dem sie' alle Poesie, die draußen in der Welt, in der Natur, in den Menschen und ihren Geschicken lebt, an sich zieht, sodaß die Kinderseele mehr draußen als drinnen ist und sich mächtig von der Poesie des Außenlebeus nährt. Die Kind¬ heit des Einzelnen gleicht darin der Kindheit der Menschheit, daß sie ganz in ihrer Umwelt aufgeht, mit ihr eins ist, und auch darin, daß sie sich dann aus dieser Naturverflechtuug und Naturbeseeluug unter tausend schmerzlichen Kämpfen wieder loslösen muß, bis der naturlose Mensch hergestellt ist, den man „brauchen kann." Wie oft ist in jenen Jahren das Gefühl in mir wiedergekehrt von einer Welt, die jenseits der engen meinen zu entdecken sei, und nach der hin Gedanken und Empfindungen ohne Namen und Ziel ins Unbekannte flogen? Und sie kehrten immer zurück und hatten kein Land gesehen! Aber wenn ich weit, weit hinein in einen blauen Himmel sehe, bis er zu zerfließen und immer tiefer heruuterzu- schweben scheint, dann meine ich wohl auch heute »och ein fernes Singen und Jauchzen zu hören und wähne, mein Jugendland müsse dort unten am Horizont aufsteigen, wo die Wolken wie silberne Inseln liegen. Voll Leben waren die vier engen Wände, in denen ich aufwuchs. Die Tapete des Zimmers, wo ich schlief, in Form und Farbe Erzeugnis einer kümmer¬ lichen Phantasie: braune Ränkchen auf gelbem Grunde, denen Figuren entsprossen, die nicht Blumen und nicht Tier waren und sich deswegen meinem Traumsinn als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/102>, abgerufen am 03.05.2024.