Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
(Llücksinseln und Traume

Wenn also nicht nur die Symptome, sondern much die Natur des Übels,
an denen die italienische und die griechischen Inseln kranken, dieselben sind,
dann wird auch das Heilmittel hier wie dort dasselbe sein müssen. Und da
deckt sich unser für Samos im Anschluß an Äußerungen Eingeborner erteilter
Rat mit dem, den Viktor Hehn für Sizilien gegeben hat. Er sagt näm¬
lich am Schlüsse seiner Betrachtung von der politischen Regierungsform der
Insel: "Vorläufig und wie die Dinge liegen, bedürfte sie einer bessern, d, h.
despotischen Regierung, und zwar in fremden, italienischen, nicht in einheimischen
Händen; denn'aus eigner Kraft kann sich dieses Volk nicht helfen. Weniger
Freiheit ist hier gleichbedeutend mit mehr Wohlfahrt, und ein tüchtiger General
der echte Fortschrittsmann." Möge man, wenn eines Tags auch den Schwester¬
inseln von Samos die Stunde der Freiheit schlägt, dieses Wort beherzigen
und den so oft begangnen Fehler nicht noch einmal macheu, daß mau ihnen
eine Staatsform aufoktroyiert, worin die Freiheit nur zur Tyrannei wird.
Möge man ihnen aber auch keine Kultur aufdrängen, worin europäische
Bildung zu ebensolcher Tyrannei, zur Zerstörung der heimischen Art, führen
muß. Der widerwärtige Typus des Levantiners, eines nicht europäischen
und nicht asiatischen, nicht modernen und uicht mittelalterlichen Wesens, der
einem in Konstantinopel und Smyrna so hünfig begegnet, er ist die faule
Frucht der äußerlichen Europüisierungssucht, die der vordere, zwischen Europa
und Asien liegende Orient hervorgebracht hat. Er wird kein wahrhafter
Kulturträger sein. Dagegen kann sich, wenigstens auf den größern Inseln,
eine gesunde Bauerickultur emporringen, wenn man ihnen die Möglichkeit zur
Entfaltung gibt. Die Elemente zu dieser, aber anch nur zu dieser, sind in
der Bevölkerung vorhanden. Sie können zu einer kräftigen Einheit gedeihen,
wenn es möglich ist, in diese verrottete Welt das allein erstrebenswerte aller
europäischen Kulturgüter zu verpflanzen -- eine verständige, allein auf das
Volkswohl bedachte Sozialpolitik.




Glücksinseln und Träume
Friedrich Ratzel voll (Fortsetzung)
5. Mein Dorf

siunnis, xrooul villg.ron oulmiriit tum-zur,
UaM'of^us vacwnt s.Itis as moutibu" nmdinv.

Vergil

n der Geographie nennt mein unser Land ein welliges Land, ein
welliges Hügelland. Wer diesen Namen liest, ohne dus Land gesehen
zu haben, was kann er sich dabei denken? Ich habe mir auf der
Schulbank gar nichts dabei gedacht, oder wenn ich mich einmal zum
Denken aufschwang, so erweckte das Wort "wellig" höchstens die Vor¬
stellung, wie unterhaltend es sein müsse, eine wellige Wiese herab-
zurollen, wo man von dem Stoß der obern Welle aus dem Tal darunter über die
zweite Welle wegbefördert würde, und so immer weiter mit beschleunigter Ge¬
schwindigkeit. Jetzt, wo ich es jahrelang gesehen habe, weiß ich das ganz anders.
Unser Land ist wellig, das heißt, daß die Häuser und Höfe bald oben und bald
unten sind, wie die Schiffe auf wogender See. Man geht leicht einen Abhang
hiunb, ohne es zu merken, zehn Schritte vielleicht, und wie man sich umsieht, ist


(Llücksinseln und Traume

Wenn also nicht nur die Symptome, sondern much die Natur des Übels,
an denen die italienische und die griechischen Inseln kranken, dieselben sind,
dann wird auch das Heilmittel hier wie dort dasselbe sein müssen. Und da
deckt sich unser für Samos im Anschluß an Äußerungen Eingeborner erteilter
Rat mit dem, den Viktor Hehn für Sizilien gegeben hat. Er sagt näm¬
lich am Schlüsse seiner Betrachtung von der politischen Regierungsform der
Insel: „Vorläufig und wie die Dinge liegen, bedürfte sie einer bessern, d, h.
despotischen Regierung, und zwar in fremden, italienischen, nicht in einheimischen
Händen; denn'aus eigner Kraft kann sich dieses Volk nicht helfen. Weniger
Freiheit ist hier gleichbedeutend mit mehr Wohlfahrt, und ein tüchtiger General
der echte Fortschrittsmann." Möge man, wenn eines Tags auch den Schwester¬
inseln von Samos die Stunde der Freiheit schlägt, dieses Wort beherzigen
und den so oft begangnen Fehler nicht noch einmal macheu, daß mau ihnen
eine Staatsform aufoktroyiert, worin die Freiheit nur zur Tyrannei wird.
Möge man ihnen aber auch keine Kultur aufdrängen, worin europäische
Bildung zu ebensolcher Tyrannei, zur Zerstörung der heimischen Art, führen
muß. Der widerwärtige Typus des Levantiners, eines nicht europäischen
und nicht asiatischen, nicht modernen und uicht mittelalterlichen Wesens, der
einem in Konstantinopel und Smyrna so hünfig begegnet, er ist die faule
Frucht der äußerlichen Europüisierungssucht, die der vordere, zwischen Europa
und Asien liegende Orient hervorgebracht hat. Er wird kein wahrhafter
Kulturträger sein. Dagegen kann sich, wenigstens auf den größern Inseln,
eine gesunde Bauerickultur emporringen, wenn man ihnen die Möglichkeit zur
Entfaltung gibt. Die Elemente zu dieser, aber anch nur zu dieser, sind in
der Bevölkerung vorhanden. Sie können zu einer kräftigen Einheit gedeihen,
wenn es möglich ist, in diese verrottete Welt das allein erstrebenswerte aller
europäischen Kulturgüter zu verpflanzen — eine verständige, allein auf das
Volkswohl bedachte Sozialpolitik.




Glücksinseln und Träume
Friedrich Ratzel voll (Fortsetzung)
5. Mein Dorf

siunnis, xrooul villg.ron oulmiriit tum-zur,
UaM'of^us vacwnt s.Itis as moutibu» nmdinv.

Vergil

n der Geographie nennt mein unser Land ein welliges Land, ein
welliges Hügelland. Wer diesen Namen liest, ohne dus Land gesehen
zu haben, was kann er sich dabei denken? Ich habe mir auf der
Schulbank gar nichts dabei gedacht, oder wenn ich mich einmal zum
Denken aufschwang, so erweckte das Wort „wellig" höchstens die Vor¬
stellung, wie unterhaltend es sein müsse, eine wellige Wiese herab-
zurollen, wo man von dem Stoß der obern Welle aus dem Tal darunter über die
zweite Welle wegbefördert würde, und so immer weiter mit beschleunigter Ge¬
schwindigkeit. Jetzt, wo ich es jahrelang gesehen habe, weiß ich das ganz anders.
Unser Land ist wellig, das heißt, daß die Häuser und Höfe bald oben und bald
unten sind, wie die Schiffe auf wogender See. Man geht leicht einen Abhang
hiunb, ohne es zu merken, zehn Schritte vielleicht, und wie man sich umsieht, ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0334" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295553"/>
          <fw type="header" place="top"> (Llücksinseln und Traume</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1551"> Wenn also nicht nur die Symptome, sondern much die Natur des Übels,<lb/>
an denen die italienische und die griechischen Inseln kranken, dieselben sind,<lb/>
dann wird auch das Heilmittel hier wie dort dasselbe sein müssen. Und da<lb/>
deckt sich unser für Samos im Anschluß an Äußerungen Eingeborner erteilter<lb/>
Rat mit dem, den Viktor Hehn für Sizilien gegeben hat. Er sagt näm¬<lb/>
lich am Schlüsse seiner Betrachtung von der politischen Regierungsform der<lb/>
Insel: &#x201E;Vorläufig und wie die Dinge liegen, bedürfte sie einer bessern, d, h.<lb/>
despotischen Regierung, und zwar in fremden, italienischen, nicht in einheimischen<lb/>
Händen; denn'aus eigner Kraft kann sich dieses Volk nicht helfen. Weniger<lb/>
Freiheit ist hier gleichbedeutend mit mehr Wohlfahrt, und ein tüchtiger General<lb/>
der echte Fortschrittsmann." Möge man, wenn eines Tags auch den Schwester¬<lb/>
inseln von Samos die Stunde der Freiheit schlägt, dieses Wort beherzigen<lb/>
und den so oft begangnen Fehler nicht noch einmal macheu, daß mau ihnen<lb/>
eine Staatsform aufoktroyiert, worin die Freiheit nur zur Tyrannei wird.<lb/>
Möge man ihnen aber auch keine Kultur aufdrängen, worin europäische<lb/>
Bildung zu ebensolcher Tyrannei, zur Zerstörung der heimischen Art, führen<lb/>
muß. Der widerwärtige Typus des Levantiners, eines nicht europäischen<lb/>
und nicht asiatischen, nicht modernen und uicht mittelalterlichen Wesens, der<lb/>
einem in Konstantinopel und Smyrna so hünfig begegnet, er ist die faule<lb/>
Frucht der äußerlichen Europüisierungssucht, die der vordere, zwischen Europa<lb/>
und Asien liegende Orient hervorgebracht hat. Er wird kein wahrhafter<lb/>
Kulturträger sein. Dagegen kann sich, wenigstens auf den größern Inseln,<lb/>
eine gesunde Bauerickultur emporringen, wenn man ihnen die Möglichkeit zur<lb/>
Entfaltung gibt. Die Elemente zu dieser, aber anch nur zu dieser, sind in<lb/>
der Bevölkerung vorhanden. Sie können zu einer kräftigen Einheit gedeihen,<lb/>
wenn es möglich ist, in diese verrottete Welt das allein erstrebenswerte aller<lb/>
europäischen Kulturgüter zu verpflanzen &#x2014; eine verständige, allein auf das<lb/>
Volkswohl bedachte Sozialpolitik.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Glücksinseln und Träume<lb/><note type="byline"> Friedrich Ratzel</note> voll (Fortsetzung)<lb/>
5. Mein Dorf </head><lb/>
          <quote type="epigraph"> siunnis, xrooul villg.ron oulmiriit tum-zur,<lb/>
UaM'of^us vacwnt s.Itis as moutibu» nmdinv.</quote><lb/>
          <note type="bibl"> Vergil</note><lb/>
          <p xml:id="ID_1552" next="#ID_1553"> n der Geographie nennt mein unser Land ein welliges Land, ein<lb/>
welliges Hügelland. Wer diesen Namen liest, ohne dus Land gesehen<lb/>
zu haben, was kann er sich dabei denken? Ich habe mir auf der<lb/>
Schulbank gar nichts dabei gedacht, oder wenn ich mich einmal zum<lb/>
Denken aufschwang, so erweckte das Wort &#x201E;wellig" höchstens die Vor¬<lb/>
stellung, wie unterhaltend es sein müsse, eine wellige Wiese herab-<lb/>
zurollen, wo man von dem Stoß der obern Welle aus dem Tal darunter über die<lb/>
zweite Welle wegbefördert würde, und so immer weiter mit beschleunigter Ge¬<lb/>
schwindigkeit. Jetzt, wo ich es jahrelang gesehen habe, weiß ich das ganz anders.<lb/>
Unser Land ist wellig, das heißt, daß die Häuser und Höfe bald oben und bald<lb/>
unten sind, wie die Schiffe auf wogender See. Man geht leicht einen Abhang<lb/>
hiunb, ohne es zu merken, zehn Schritte vielleicht, und wie man sich umsieht, ist</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0334] (Llücksinseln und Traume Wenn also nicht nur die Symptome, sondern much die Natur des Übels, an denen die italienische und die griechischen Inseln kranken, dieselben sind, dann wird auch das Heilmittel hier wie dort dasselbe sein müssen. Und da deckt sich unser für Samos im Anschluß an Äußerungen Eingeborner erteilter Rat mit dem, den Viktor Hehn für Sizilien gegeben hat. Er sagt näm¬ lich am Schlüsse seiner Betrachtung von der politischen Regierungsform der Insel: „Vorläufig und wie die Dinge liegen, bedürfte sie einer bessern, d, h. despotischen Regierung, und zwar in fremden, italienischen, nicht in einheimischen Händen; denn'aus eigner Kraft kann sich dieses Volk nicht helfen. Weniger Freiheit ist hier gleichbedeutend mit mehr Wohlfahrt, und ein tüchtiger General der echte Fortschrittsmann." Möge man, wenn eines Tags auch den Schwester¬ inseln von Samos die Stunde der Freiheit schlägt, dieses Wort beherzigen und den so oft begangnen Fehler nicht noch einmal macheu, daß mau ihnen eine Staatsform aufoktroyiert, worin die Freiheit nur zur Tyrannei wird. Möge man ihnen aber auch keine Kultur aufdrängen, worin europäische Bildung zu ebensolcher Tyrannei, zur Zerstörung der heimischen Art, führen muß. Der widerwärtige Typus des Levantiners, eines nicht europäischen und nicht asiatischen, nicht modernen und uicht mittelalterlichen Wesens, der einem in Konstantinopel und Smyrna so hünfig begegnet, er ist die faule Frucht der äußerlichen Europüisierungssucht, die der vordere, zwischen Europa und Asien liegende Orient hervorgebracht hat. Er wird kein wahrhafter Kulturträger sein. Dagegen kann sich, wenigstens auf den größern Inseln, eine gesunde Bauerickultur emporringen, wenn man ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung gibt. Die Elemente zu dieser, aber anch nur zu dieser, sind in der Bevölkerung vorhanden. Sie können zu einer kräftigen Einheit gedeihen, wenn es möglich ist, in diese verrottete Welt das allein erstrebenswerte aller europäischen Kulturgüter zu verpflanzen — eine verständige, allein auf das Volkswohl bedachte Sozialpolitik. Glücksinseln und Träume Friedrich Ratzel voll (Fortsetzung) 5. Mein Dorf siunnis, xrooul villg.ron oulmiriit tum-zur, UaM'of^us vacwnt s.Itis as moutibu» nmdinv. Vergil n der Geographie nennt mein unser Land ein welliges Land, ein welliges Hügelland. Wer diesen Namen liest, ohne dus Land gesehen zu haben, was kann er sich dabei denken? Ich habe mir auf der Schulbank gar nichts dabei gedacht, oder wenn ich mich einmal zum Denken aufschwang, so erweckte das Wort „wellig" höchstens die Vor¬ stellung, wie unterhaltend es sein müsse, eine wellige Wiese herab- zurollen, wo man von dem Stoß der obern Welle aus dem Tal darunter über die zweite Welle wegbefördert würde, und so immer weiter mit beschleunigter Ge¬ schwindigkeit. Jetzt, wo ich es jahrelang gesehen habe, weiß ich das ganz anders. Unser Land ist wellig, das heißt, daß die Häuser und Höfe bald oben und bald unten sind, wie die Schiffe auf wogender See. Man geht leicht einen Abhang hiunb, ohne es zu merken, zehn Schritte vielleicht, und wie man sich umsieht, ist

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/334
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/334>, abgerufen am 03.05.2024.