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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Literarisches

Vom 1, August 1818 auf Kosten Österreichs und der Schweiz von italienischen
Ingenieuren erbaut lind zugleich mit der Bernhardiustraße 1823 eröffnet wurde,
erstieg deshalb dieser Verkehr seine höchste Stufe; gingen doch im Jahre 1856
zum Beispiel 271000 Zentner Waren über den Splügen, und noch 1876 gegen
30000 Reisende. Die Post war 1813 bis 1849 kantonal, seit 1849 ist sie
eidgenössisch. Diesen modernen Verkehrseinrichtungen wichen seit den vierziger
Jahren die Porter, durch Bnndesbeschluß vom 23. Juli 1861 wurden sie
gänzlich aufgehoben. Aber mit der Eröffnung der Brennerbahn 1867 verlor
der Splügeu den größten Teil seines Frachtverkehrs, und die Gotthardbcchn
(1882) versetzte auch dem Personenverkehr großen Stils den Todesstoß. Das
Dorf Splügen selbst ist heute offenbar nur noch der Schatten seiner alten Be¬
deutung und findet nur als Sommerfrische, die auch von Italienern besucht
wi solaN rd, einen schwachen Ersatz.




Literarisches

in Bändchen Gedichte -- beinahe zweihundert Seiten --, das
nach einem halben Jahre i" zweiter Auflage erschienen ist --
was wird es enthalten? Krampfige Lüsternheit, Übermenscheu-
tum jenseits von Gut und Böse, Symbolistengefasel, formloses
Herumtaumeln in willkürlich abgeteilten Zeilen, die sich ebenso¬
gut als gewöhnliche Prosa drucken ließen, mit tiefsinniger Verschmähung des
Reims, weil er sich angeblich ausgeleiert hat und für die neue Kunst (impulsiv,
impressionistisch, naturalistisch wahr, pleinair usw.) nicht ausreicht? Es gibt
ja ans dem logischen, dem moralischen, dem ästhetischen Gebiet Analogien dessen,
was man auf dem physikalisch-physiologischen potenzierte Affeukapriolen nennen
kann. Wer etwa als Leser und "moderner Mensch" hier so prickelnde Genüsse
erwartet, funde sich enttäuscht. Solche Kunststücke hat offenbar Rudolf Presber
in seinen Gedichten durchaus uicht angestrebt (Stuttgart und Berlin, Cotta
Nachfolger). Auch das will der Titel Nsäig, in vio nicht indirekt sagen,
was Euripides einmal fragen läßt: Wer weiß denn, ob nicht lebe" sterben ist,
und sterben leben . . .? sondern dieser Titel erhält die bekannte Fortsetzung
in mores sumos in dem Sinne, daß der Tod uns nahe ist durch die Zukunft,
nahe durch die Erinnerung an Geschiedne. Dadurch gewinnt das Ganze
nicht nur den Charakter der in diesem mittelalterlichen Spruch enthaltnen Ge¬
fühle und Erfahrungen, souderu nach seiner Zerteilung können wir wohl er¬
warten, auch aus dem Leben selbst etwas zu finden.

In der Tat kommt die "Zeit" in diesen flüssigen Versen nicht zu kurz
(S. 29, 38, 167 f.); Bismarck, Goethe und Böcklin zum Beispiel werden ge¬
priesen: der erste mit Bezug auf das Frankfurter Denkmal, der zweite aus
Anlaß des hundertfünfzigsten, der dritte aus Anlaß des siebzigsten Geburts¬
tags. Wesentlich jedoch spricht der Dichter sich selbst aus, nach der Hegelschen


GrenMten IV 1904 85
Literarisches

Vom 1, August 1818 auf Kosten Österreichs und der Schweiz von italienischen
Ingenieuren erbaut lind zugleich mit der Bernhardiustraße 1823 eröffnet wurde,
erstieg deshalb dieser Verkehr seine höchste Stufe; gingen doch im Jahre 1856
zum Beispiel 271000 Zentner Waren über den Splügen, und noch 1876 gegen
30000 Reisende. Die Post war 1813 bis 1849 kantonal, seit 1849 ist sie
eidgenössisch. Diesen modernen Verkehrseinrichtungen wichen seit den vierziger
Jahren die Porter, durch Bnndesbeschluß vom 23. Juli 1861 wurden sie
gänzlich aufgehoben. Aber mit der Eröffnung der Brennerbahn 1867 verlor
der Splügeu den größten Teil seines Frachtverkehrs, und die Gotthardbcchn
(1882) versetzte auch dem Personenverkehr großen Stils den Todesstoß. Das
Dorf Splügen selbst ist heute offenbar nur noch der Schatten seiner alten Be¬
deutung und findet nur als Sommerfrische, die auch von Italienern besucht
wi solaN rd, einen schwachen Ersatz.




Literarisches

in Bändchen Gedichte — beinahe zweihundert Seiten —, das
nach einem halben Jahre i» zweiter Auflage erschienen ist —
was wird es enthalten? Krampfige Lüsternheit, Übermenscheu-
tum jenseits von Gut und Böse, Symbolistengefasel, formloses
Herumtaumeln in willkürlich abgeteilten Zeilen, die sich ebenso¬
gut als gewöhnliche Prosa drucken ließen, mit tiefsinniger Verschmähung des
Reims, weil er sich angeblich ausgeleiert hat und für die neue Kunst (impulsiv,
impressionistisch, naturalistisch wahr, pleinair usw.) nicht ausreicht? Es gibt
ja ans dem logischen, dem moralischen, dem ästhetischen Gebiet Analogien dessen,
was man auf dem physikalisch-physiologischen potenzierte Affeukapriolen nennen
kann. Wer etwa als Leser und „moderner Mensch" hier so prickelnde Genüsse
erwartet, funde sich enttäuscht. Solche Kunststücke hat offenbar Rudolf Presber
in seinen Gedichten durchaus uicht angestrebt (Stuttgart und Berlin, Cotta
Nachfolger). Auch das will der Titel Nsäig, in vio nicht indirekt sagen,
was Euripides einmal fragen läßt: Wer weiß denn, ob nicht lebe» sterben ist,
und sterben leben . . .? sondern dieser Titel erhält die bekannte Fortsetzung
in mores sumos in dem Sinne, daß der Tod uns nahe ist durch die Zukunft,
nahe durch die Erinnerung an Geschiedne. Dadurch gewinnt das Ganze
nicht nur den Charakter der in diesem mittelalterlichen Spruch enthaltnen Ge¬
fühle und Erfahrungen, souderu nach seiner Zerteilung können wir wohl er¬
warten, auch aus dem Leben selbst etwas zu finden.

In der Tat kommt die „Zeit" in diesen flüssigen Versen nicht zu kurz
(S. 29, 38, 167 f.); Bismarck, Goethe und Böcklin zum Beispiel werden ge¬
priesen: der erste mit Bezug auf das Frankfurter Denkmal, der zweite aus
Anlaß des hundertfünfzigsten, der dritte aus Anlaß des siebzigsten Geburts¬
tags. Wesentlich jedoch spricht der Dichter sich selbst aus, nach der Hegelschen


GrenMten IV 1904 85
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[0633] Literarisches Vom 1, August 1818 auf Kosten Österreichs und der Schweiz von italienischen Ingenieuren erbaut lind zugleich mit der Bernhardiustraße 1823 eröffnet wurde, erstieg deshalb dieser Verkehr seine höchste Stufe; gingen doch im Jahre 1856 zum Beispiel 271000 Zentner Waren über den Splügen, und noch 1876 gegen 30000 Reisende. Die Post war 1813 bis 1849 kantonal, seit 1849 ist sie eidgenössisch. Diesen modernen Verkehrseinrichtungen wichen seit den vierziger Jahren die Porter, durch Bnndesbeschluß vom 23. Juli 1861 wurden sie gänzlich aufgehoben. Aber mit der Eröffnung der Brennerbahn 1867 verlor der Splügeu den größten Teil seines Frachtverkehrs, und die Gotthardbcchn (1882) versetzte auch dem Personenverkehr großen Stils den Todesstoß. Das Dorf Splügen selbst ist heute offenbar nur noch der Schatten seiner alten Be¬ deutung und findet nur als Sommerfrische, die auch von Italienern besucht wi solaN rd, einen schwachen Ersatz. Literarisches in Bändchen Gedichte — beinahe zweihundert Seiten —, das nach einem halben Jahre i» zweiter Auflage erschienen ist — was wird es enthalten? Krampfige Lüsternheit, Übermenscheu- tum jenseits von Gut und Böse, Symbolistengefasel, formloses Herumtaumeln in willkürlich abgeteilten Zeilen, die sich ebenso¬ gut als gewöhnliche Prosa drucken ließen, mit tiefsinniger Verschmähung des Reims, weil er sich angeblich ausgeleiert hat und für die neue Kunst (impulsiv, impressionistisch, naturalistisch wahr, pleinair usw.) nicht ausreicht? Es gibt ja ans dem logischen, dem moralischen, dem ästhetischen Gebiet Analogien dessen, was man auf dem physikalisch-physiologischen potenzierte Affeukapriolen nennen kann. Wer etwa als Leser und „moderner Mensch" hier so prickelnde Genüsse erwartet, funde sich enttäuscht. Solche Kunststücke hat offenbar Rudolf Presber in seinen Gedichten durchaus uicht angestrebt (Stuttgart und Berlin, Cotta Nachfolger). Auch das will der Titel Nsäig, in vio nicht indirekt sagen, was Euripides einmal fragen läßt: Wer weiß denn, ob nicht lebe» sterben ist, und sterben leben . . .? sondern dieser Titel erhält die bekannte Fortsetzung in mores sumos in dem Sinne, daß der Tod uns nahe ist durch die Zukunft, nahe durch die Erinnerung an Geschiedne. Dadurch gewinnt das Ganze nicht nur den Charakter der in diesem mittelalterlichen Spruch enthaltnen Ge¬ fühle und Erfahrungen, souderu nach seiner Zerteilung können wir wohl er¬ warten, auch aus dem Leben selbst etwas zu finden. In der Tat kommt die „Zeit" in diesen flüssigen Versen nicht zu kurz (S. 29, 38, 167 f.); Bismarck, Goethe und Böcklin zum Beispiel werden ge¬ priesen: der erste mit Bezug auf das Frankfurter Denkmal, der zweite aus Anlaß des hundertfünfzigsten, der dritte aus Anlaß des siebzigsten Geburts¬ tags. Wesentlich jedoch spricht der Dichter sich selbst aus, nach der Hegelschen GrenMten IV 1904 85

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/633>, abgerufen am 03.05.2024.