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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Armenrecht, Anwaltszwang und Gerichtskostengesetz
Lügen Josef i von

in 1. Oktober des vorigen Jahres waren fünfundzwanzig Jahre
seit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1879 vergangen;
die Zivilprozeßordnung, die Strafprozeßordnung, die Konkurs¬
ordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz sahen damals auf ein
Vierteljahrhundert ihrer Geltung zurück. Diese Wiederkehr eines
so wichtigen Tages fand nicht die Beachtung, die man vor fünfundzwanzig
Jahren dereinst Wohl erwartet hatte. Größere Tageszeitungen und einzelne
Fachzeitschriften brachten wohl Leitartikel, aber die richtige Feststimmung fehlte;
vielmehr ging durch alle diese der Wiederkehr des wichtigen Tages gewidmeten
Aufsätze ein schlecht verhehlter Zug der Unzufriedenheit, der Verstimmung, teil¬
weise sogar ein Zug von "Reichsvcrdrossenheit." Noch vor zwanzig Jahren
tröstete man sich über die Mängel des neuen Zivilprozeßverfahrens mit der
Erwägung hinweg, daß man sie hinnehmen müsse in der Freude über die
endlich erreichte Rechtseinheit. Zutreffend wies hiergegen der geistvolle Reichs¬
gerichtsrat Otto Bühr darauf hin, es sei doch für einen Bürger von Gum-
binnen oder von Köln, der seinen Prozeß infolge eines Zustellungsfehlers
verliere, ein schlechter Trost die Erwägung, daß es jedem Bürger in Konstanz
oder in München ebenso gehn könne, und für den Richter in Berlin oder in
Stettin, der unter den Mängeln des neuen Prozeßverfahrens leide, sei ein
eigentümlicher Trost der Gedanke, daß es den Richtern in Stuttgart und in
Metz ebenso gehe. So war denn Unzufriedenheit und Mißstimmung der
Grundzug aller Ergüsse zur fttnfundzwanzigjährigen Jubelfeier; und das ist
begreiflich, denn niemals sind die Hoffnungen, die man auf ein so großartiges
Gesetzeswerk gesetzt hatte, kläglicher getäuscht worden wie bei den Reichsjustiz¬
gesetzen von 1879, und zwar bei jedem einzelnen von ihnen. Das gilt auch
vom Gerichtsverfassungsgesetz. In den altpreußischen Landesteilen und den
meisten andern Staaten wurde früher die Gerichtsbarkeit erster Instanz aus¬
geübt von Kreisgerichten; das waren Kollegialgerichte, deren Mitglieder teils
als Einzelrichter, teils als Mitglieder eines Kollegiums ihres Amtes walteten,
sodaß also derselbe Richter den einen Teil seiner Amtstätigkeit (so die ganze


Grenzboten IV 1905, 59


Armenrecht, Anwaltszwang und Gerichtskostengesetz
Lügen Josef i von

in 1. Oktober des vorigen Jahres waren fünfundzwanzig Jahre
seit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1879 vergangen;
die Zivilprozeßordnung, die Strafprozeßordnung, die Konkurs¬
ordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz sahen damals auf ein
Vierteljahrhundert ihrer Geltung zurück. Diese Wiederkehr eines
so wichtigen Tages fand nicht die Beachtung, die man vor fünfundzwanzig
Jahren dereinst Wohl erwartet hatte. Größere Tageszeitungen und einzelne
Fachzeitschriften brachten wohl Leitartikel, aber die richtige Feststimmung fehlte;
vielmehr ging durch alle diese der Wiederkehr des wichtigen Tages gewidmeten
Aufsätze ein schlecht verhehlter Zug der Unzufriedenheit, der Verstimmung, teil¬
weise sogar ein Zug von „Reichsvcrdrossenheit." Noch vor zwanzig Jahren
tröstete man sich über die Mängel des neuen Zivilprozeßverfahrens mit der
Erwägung hinweg, daß man sie hinnehmen müsse in der Freude über die
endlich erreichte Rechtseinheit. Zutreffend wies hiergegen der geistvolle Reichs¬
gerichtsrat Otto Bühr darauf hin, es sei doch für einen Bürger von Gum-
binnen oder von Köln, der seinen Prozeß infolge eines Zustellungsfehlers
verliere, ein schlechter Trost die Erwägung, daß es jedem Bürger in Konstanz
oder in München ebenso gehn könne, und für den Richter in Berlin oder in
Stettin, der unter den Mängeln des neuen Prozeßverfahrens leide, sei ein
eigentümlicher Trost der Gedanke, daß es den Richtern in Stuttgart und in
Metz ebenso gehe. So war denn Unzufriedenheit und Mißstimmung der
Grundzug aller Ergüsse zur fttnfundzwanzigjährigen Jubelfeier; und das ist
begreiflich, denn niemals sind die Hoffnungen, die man auf ein so großartiges
Gesetzeswerk gesetzt hatte, kläglicher getäuscht worden wie bei den Reichsjustiz¬
gesetzen von 1879, und zwar bei jedem einzelnen von ihnen. Das gilt auch
vom Gerichtsverfassungsgesetz. In den altpreußischen Landesteilen und den
meisten andern Staaten wurde früher die Gerichtsbarkeit erster Instanz aus¬
geübt von Kreisgerichten; das waren Kollegialgerichte, deren Mitglieder teils
als Einzelrichter, teils als Mitglieder eines Kollegiums ihres Amtes walteten,
sodaß also derselbe Richter den einen Teil seiner Amtstätigkeit (so die ganze


Grenzboten IV 1905, 59
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[0461] [Abbildung] Armenrecht, Anwaltszwang und Gerichtskostengesetz Lügen Josef i von in 1. Oktober des vorigen Jahres waren fünfundzwanzig Jahre seit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1879 vergangen; die Zivilprozeßordnung, die Strafprozeßordnung, die Konkurs¬ ordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz sahen damals auf ein Vierteljahrhundert ihrer Geltung zurück. Diese Wiederkehr eines so wichtigen Tages fand nicht die Beachtung, die man vor fünfundzwanzig Jahren dereinst Wohl erwartet hatte. Größere Tageszeitungen und einzelne Fachzeitschriften brachten wohl Leitartikel, aber die richtige Feststimmung fehlte; vielmehr ging durch alle diese der Wiederkehr des wichtigen Tages gewidmeten Aufsätze ein schlecht verhehlter Zug der Unzufriedenheit, der Verstimmung, teil¬ weise sogar ein Zug von „Reichsvcrdrossenheit." Noch vor zwanzig Jahren tröstete man sich über die Mängel des neuen Zivilprozeßverfahrens mit der Erwägung hinweg, daß man sie hinnehmen müsse in der Freude über die endlich erreichte Rechtseinheit. Zutreffend wies hiergegen der geistvolle Reichs¬ gerichtsrat Otto Bühr darauf hin, es sei doch für einen Bürger von Gum- binnen oder von Köln, der seinen Prozeß infolge eines Zustellungsfehlers verliere, ein schlechter Trost die Erwägung, daß es jedem Bürger in Konstanz oder in München ebenso gehn könne, und für den Richter in Berlin oder in Stettin, der unter den Mängeln des neuen Prozeßverfahrens leide, sei ein eigentümlicher Trost der Gedanke, daß es den Richtern in Stuttgart und in Metz ebenso gehe. So war denn Unzufriedenheit und Mißstimmung der Grundzug aller Ergüsse zur fttnfundzwanzigjährigen Jubelfeier; und das ist begreiflich, denn niemals sind die Hoffnungen, die man auf ein so großartiges Gesetzeswerk gesetzt hatte, kläglicher getäuscht worden wie bei den Reichsjustiz¬ gesetzen von 1879, und zwar bei jedem einzelnen von ihnen. Das gilt auch vom Gerichtsverfassungsgesetz. In den altpreußischen Landesteilen und den meisten andern Staaten wurde früher die Gerichtsbarkeit erster Instanz aus¬ geübt von Kreisgerichten; das waren Kollegialgerichte, deren Mitglieder teils als Einzelrichter, teils als Mitglieder eines Kollegiums ihres Amtes walteten, sodaß also derselbe Richter den einen Teil seiner Amtstätigkeit (so die ganze Grenzboten IV 1905, 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/461>, abgerufen am 07.05.2024.