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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Universitätsfragen in Rußland

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'Wh-^D>le Universitäten sollen die Verkörperung des geistigen Lebens eines
Landes sein. Ihre Lehrer müssen von der Höhe des gegenwärtigen
Standes der Wissenschaft neue Pfade weisen und die studierende
Jugend für die vielgestaltigen Aufgaben des staatliche" und des
! öffentlichen Lebens heranbilden. Dieser hohen Bestimmung ver¬
mögen die russischen Hochschulen, wie es scheint, nicht gerecht zu werden: aus
einer Pslegestütte der Wissenschaften sind sie zu einem Schauplatz politischer
Demonstrationen geworden. Keine Bewegung ist jenseits der rot-blau-weißen
Grenzpfühle verlaufen, ohne daß Studenten in erschreckender Anzahl beteiligt
waren. Und wenn auch zugegeben werden muß, daß die politische Ordnung
des Nachbarreichs, wie wir sie in einem frühern Aufsatz in diesen Blättern zu
schildern versucht haben, einer dem Wesen des modernen Staats entsprechenden,
vorsichtig und allmählich fortschreitenden Verbesserung dringend bedarf, so ist es
doch ein ungesunder Zustand, daß sich die studierende Jugend als Verfechter
der sozialpolitischen Interessen der Gesellschaft aufspielt, Unruhe und Begehrlich¬
keit in weite Kreise trägt, im Arbeiterstande schürt und hetzt, sich selber im
rötesten Radikalismus verliert, Straßentumulte nicht scheut, Streikt und, wie es
schon mehrfach geschehen ist, durch harte Maßregeln und Strafen zur Besinnung
gebracht werden muß.

Die innern Gründe für diese Erscheinung, die eine ernste Gefahr für Staat
und Gesellschaft bedeutet, haben mit dem Idealismus, der nach den Befreiungs¬
kriegen unserm Universitätsleben eine bestimmte Richtung gab, nur sehr wenig
gemeinsam. Man darf sie keineswegs nur in deu Mängeln der Hochschulen
suchen, denn sie beruhen zum guten Teil auf den Zustünden des politischen
Lebens. Es ist klar, daß die studentische Jugend, wenn sie körperlich fast fertig
entwickelt und geistig für die Aufnahme des reichsten Wissens mehr oder minder
gut vorbereitet zur Universität kommt, eine wenn auch durchaus nicht völlig
gereifte Anschauung über die Erscheinungen des Lebens in Staat und Gesell¬
schaft mitbringt, eine Anschauung, die sich natürlich unter dem Einfluß der
bisherigen Umgebung gebildet hat. Die Studentenschaft gehört in überwiegender
Mehrzahl (63 Prozent) zu dem intelligentesten und geistig am besten entwickelten
Teile der russischen Gesellschaft, dem Adel und der Beamtenschaft; die städtische
Bevölkerung, Kaufleute, Kleinbürger und Handwerke stellen etwa 25 Prozent,
die übrige Bevölkerung samt dem Bauernstande nur 12 Prozent aller Stu¬
denten.*)

Nun kann von einem politischen Leben in der russischen Gesellschaft eigent¬
lich erst seit der Zeit der Reformen Alexanders des Zweiten die Rede sein.



Nach einem Artikel der Nowoje Wremja und nach persönlichen Eindrücken.


Universitätsfragen in Rußland

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'Wh-^D>le Universitäten sollen die Verkörperung des geistigen Lebens eines
Landes sein. Ihre Lehrer müssen von der Höhe des gegenwärtigen
Standes der Wissenschaft neue Pfade weisen und die studierende
Jugend für die vielgestaltigen Aufgaben des staatliche» und des
! öffentlichen Lebens heranbilden. Dieser hohen Bestimmung ver¬
mögen die russischen Hochschulen, wie es scheint, nicht gerecht zu werden: aus
einer Pslegestütte der Wissenschaften sind sie zu einem Schauplatz politischer
Demonstrationen geworden. Keine Bewegung ist jenseits der rot-blau-weißen
Grenzpfühle verlaufen, ohne daß Studenten in erschreckender Anzahl beteiligt
waren. Und wenn auch zugegeben werden muß, daß die politische Ordnung
des Nachbarreichs, wie wir sie in einem frühern Aufsatz in diesen Blättern zu
schildern versucht haben, einer dem Wesen des modernen Staats entsprechenden,
vorsichtig und allmählich fortschreitenden Verbesserung dringend bedarf, so ist es
doch ein ungesunder Zustand, daß sich die studierende Jugend als Verfechter
der sozialpolitischen Interessen der Gesellschaft aufspielt, Unruhe und Begehrlich¬
keit in weite Kreise trägt, im Arbeiterstande schürt und hetzt, sich selber im
rötesten Radikalismus verliert, Straßentumulte nicht scheut, Streikt und, wie es
schon mehrfach geschehen ist, durch harte Maßregeln und Strafen zur Besinnung
gebracht werden muß.

Die innern Gründe für diese Erscheinung, die eine ernste Gefahr für Staat
und Gesellschaft bedeutet, haben mit dem Idealismus, der nach den Befreiungs¬
kriegen unserm Universitätsleben eine bestimmte Richtung gab, nur sehr wenig
gemeinsam. Man darf sie keineswegs nur in deu Mängeln der Hochschulen
suchen, denn sie beruhen zum guten Teil auf den Zustünden des politischen
Lebens. Es ist klar, daß die studentische Jugend, wenn sie körperlich fast fertig
entwickelt und geistig für die Aufnahme des reichsten Wissens mehr oder minder
gut vorbereitet zur Universität kommt, eine wenn auch durchaus nicht völlig
gereifte Anschauung über die Erscheinungen des Lebens in Staat und Gesell¬
schaft mitbringt, eine Anschauung, die sich natürlich unter dem Einfluß der
bisherigen Umgebung gebildet hat. Die Studentenschaft gehört in überwiegender
Mehrzahl (63 Prozent) zu dem intelligentesten und geistig am besten entwickelten
Teile der russischen Gesellschaft, dem Adel und der Beamtenschaft; die städtische
Bevölkerung, Kaufleute, Kleinbürger und Handwerke stellen etwa 25 Prozent,
die übrige Bevölkerung samt dem Bauernstande nur 12 Prozent aller Stu¬
denten.*)

Nun kann von einem politischen Leben in der russischen Gesellschaft eigent¬
lich erst seit der Zeit der Reformen Alexanders des Zweiten die Rede sein.



Nach einem Artikel der Nowoje Wremja und nach persönlichen Eindrücken.
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[0207] [Abbildung] Universitätsfragen in Rußland </V?AZ>.'< U^DM x^MZ / 'Wh-^D>le Universitäten sollen die Verkörperung des geistigen Lebens eines Landes sein. Ihre Lehrer müssen von der Höhe des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft neue Pfade weisen und die studierende Jugend für die vielgestaltigen Aufgaben des staatliche» und des ! öffentlichen Lebens heranbilden. Dieser hohen Bestimmung ver¬ mögen die russischen Hochschulen, wie es scheint, nicht gerecht zu werden: aus einer Pslegestütte der Wissenschaften sind sie zu einem Schauplatz politischer Demonstrationen geworden. Keine Bewegung ist jenseits der rot-blau-weißen Grenzpfühle verlaufen, ohne daß Studenten in erschreckender Anzahl beteiligt waren. Und wenn auch zugegeben werden muß, daß die politische Ordnung des Nachbarreichs, wie wir sie in einem frühern Aufsatz in diesen Blättern zu schildern versucht haben, einer dem Wesen des modernen Staats entsprechenden, vorsichtig und allmählich fortschreitenden Verbesserung dringend bedarf, so ist es doch ein ungesunder Zustand, daß sich die studierende Jugend als Verfechter der sozialpolitischen Interessen der Gesellschaft aufspielt, Unruhe und Begehrlich¬ keit in weite Kreise trägt, im Arbeiterstande schürt und hetzt, sich selber im rötesten Radikalismus verliert, Straßentumulte nicht scheut, Streikt und, wie es schon mehrfach geschehen ist, durch harte Maßregeln und Strafen zur Besinnung gebracht werden muß. Die innern Gründe für diese Erscheinung, die eine ernste Gefahr für Staat und Gesellschaft bedeutet, haben mit dem Idealismus, der nach den Befreiungs¬ kriegen unserm Universitätsleben eine bestimmte Richtung gab, nur sehr wenig gemeinsam. Man darf sie keineswegs nur in deu Mängeln der Hochschulen suchen, denn sie beruhen zum guten Teil auf den Zustünden des politischen Lebens. Es ist klar, daß die studentische Jugend, wenn sie körperlich fast fertig entwickelt und geistig für die Aufnahme des reichsten Wissens mehr oder minder gut vorbereitet zur Universität kommt, eine wenn auch durchaus nicht völlig gereifte Anschauung über die Erscheinungen des Lebens in Staat und Gesell¬ schaft mitbringt, eine Anschauung, die sich natürlich unter dem Einfluß der bisherigen Umgebung gebildet hat. Die Studentenschaft gehört in überwiegender Mehrzahl (63 Prozent) zu dem intelligentesten und geistig am besten entwickelten Teile der russischen Gesellschaft, dem Adel und der Beamtenschaft; die städtische Bevölkerung, Kaufleute, Kleinbürger und Handwerke stellen etwa 25 Prozent, die übrige Bevölkerung samt dem Bauernstande nur 12 Prozent aller Stu¬ denten.*) Nun kann von einem politischen Leben in der russischen Gesellschaft eigent¬ lich erst seit der Zeit der Reformen Alexanders des Zweiten die Rede sein. Nach einem Artikel der Nowoje Wremja und nach persönlichen Eindrücken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/207>, abgerufen am 07.05.2024.