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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

eine, freilich nicht vorhandne englisch-französische Mauer anzurennen. Der franzö¬
sische Minister hat sich nicht nur in bezug auf diese Mauer, sondern auch in bezug
auf die Unterstützung verrechnet, auf die er bei der öffentlichen Meinung Frank¬
reichs gehofft hatte. Dazu kommt nun noch die Schwierigkeit, die ihm die russische
Flotte in Ostasien bereitet. Das Kunststück, zugleich mit Rußland und mit England
in einer ootsuts eoräi^Is zu sein, konnte wohl Bismarck vorübergehend fertig bringen
-- auch dieser uur vorübergehend --, Delcasft war doch wohl nicht erfahren genug,
diese beiden Eisen ans einmal im Feuer halten zu können. Daß er sich nun
obendrein auch noch zu Deutschland in unnötige Schwierigkeiten begeben und damit
Frankreich in jeder Hinsicht von England abhängig gemacht hat, war für jeden
einsichtigen Franzosen ein ooinblo der Ungeschicklichkeit. Daran ist er gescheitert.
Wir brauchen in Deutschland nicht darüber zu frohlocken, sondern wollen der weitern
Entwicklung kalt und gelassen zusehen. Wie lautet doch der alte Bismarckische
Wappenspruch? ^ Weqekraut sollt' stehen la'n!
Hüt ti, Jung, s' sind Nesseln dran!
"ß"




Böcklin und unsre Forsten.

Sein "Schweigen im Walde" hat Böcklin,
soviel ich weiß, mehrmals gemalt. Von den manchen wohlgelungnen Reproduktionen
dieses Kunstwerkes scheint keine nach dem Bilde gefertigt zu sein, das die Ham¬
burger Kunsthalle enthält: denn jeder, der dieses "Schweigen im Walde" haupt¬
sächlich aus den Reproduktionen kennt oder es sich doch aus ihrer häufigen Be¬
trachtung vorwiegend nach ihnen eingeprägt hat, wird sich, wenn er zum erstenmal
vor dem Bilde im Ecksaal der Hamburger Galerie steht, überrascht fragen, ob diese
weibliche Figur, die auf dem Einhorn ans dem Waldesdunkel auf den freien Aus¬
blick der Lichtung heransrciten will, denn wirklich dieselbe ist, die er so gut aus
seiner Bildermappe zu kennen glaubt; und wirklich, es ist nicht dieselbe. Klar und
mit ausdrucksvollen Zügen reitet -- unser Gedächtnis kaun sich nicht täuschen --
eine lebendige Waldfee uns aus dem Dunkel der hochstämmigen Wnldesticfe ent¬
gegen. Hier aber hat sich diese eindrucksvolle Erscheinung in einen Schatten auf¬
gelöst, der kaum Umrisse, viel weniger erkennbare Gesichtszüge trägt. Von den
Strahlen des Abendroth beschienen wendet sich der Kopf des Einhorns dem Lichte
zu, das aus blauer Bergcsferne über die Schlucht der jungen Fichten hinweg zum
Waldessaum den letzten Gruß des scheidenden Tages sendet; aber so scharf abge¬
schnitten, so übergangslos, wie es nnr ein genialer Maler wagen durste, bleibt
dahinter die Reiterin wie verschleiert von den Schatten der Bäume, die dem Lichte
so überraschend mächtig jeden Eintritt wehren, als hätte eine Zauberhand hier eine
Mauer aufgerichtet. Nur dem Genius des Malers konnte es gelingen, trotz dieser
annähernden Unkenntlichkeit der Gestalt des "Schweigens," ihrer Haltung wie
ihrem Antlitz oder richtiger den Schatten von beiden nicht nur Ausdruck zu ver¬
leihen, sondern solchen Ausdruck, so tief und überzeugend, so einheitlich, so voll
stummen, hoffnungslosen Grüns über unabwendbares Schicksal, daß niemand zweifeln
wird, die Reiterin wird, wenn anch sie gleich dem Haupte ihres treuen Einhorns
in das warme Abendlicht hinaustritt, nicht die leiseste Wendung machen, von den
belebenden Strahlen anch Leben in ihr eignes Antlitz einzusaugen. -- Schweigen
im Walde! Will Böcklin unsre Sinne in die graue Vorzeit führen, wo die Ein¬
bildung unsrer Vorfahren unser nebelverhülltes Vaterland, die Ac-rin-mis, borriä>>.
silvis, mit phantastischen Gestalten spukhaften Zaubers zu erfüllen liebte, von denen
wir alle in den Märchen unsrer Kinderzeit noch so gern die geheimnisvollen
Spuren genossen haben? Man sollte es fast glauben, wenn man dem sonderbaren
Stirngehörntcn in die überwildgroß vorgetretncn Lichter sieht. Und doch sind es
nicht die fernen Klänge versunkner Jahrtausende, denen wir nach des großen
Malers Absicht andächtig lauschen sollen, nein es ist die eruste, warnende Stimme


Maßgebliches und Unmaßgebliches

eine, freilich nicht vorhandne englisch-französische Mauer anzurennen. Der franzö¬
sische Minister hat sich nicht nur in bezug auf diese Mauer, sondern auch in bezug
auf die Unterstützung verrechnet, auf die er bei der öffentlichen Meinung Frank¬
reichs gehofft hatte. Dazu kommt nun noch die Schwierigkeit, die ihm die russische
Flotte in Ostasien bereitet. Das Kunststück, zugleich mit Rußland und mit England
in einer ootsuts eoräi^Is zu sein, konnte wohl Bismarck vorübergehend fertig bringen
— auch dieser uur vorübergehend —, Delcasft war doch wohl nicht erfahren genug,
diese beiden Eisen ans einmal im Feuer halten zu können. Daß er sich nun
obendrein auch noch zu Deutschland in unnötige Schwierigkeiten begeben und damit
Frankreich in jeder Hinsicht von England abhängig gemacht hat, war für jeden
einsichtigen Franzosen ein ooinblo der Ungeschicklichkeit. Daran ist er gescheitert.
Wir brauchen in Deutschland nicht darüber zu frohlocken, sondern wollen der weitern
Entwicklung kalt und gelassen zusehen. Wie lautet doch der alte Bismarckische
Wappenspruch? ^ Weqekraut sollt' stehen la'n!
Hüt ti, Jung, s' sind Nesseln dran!
»ß»




Böcklin und unsre Forsten.

Sein „Schweigen im Walde" hat Böcklin,
soviel ich weiß, mehrmals gemalt. Von den manchen wohlgelungnen Reproduktionen
dieses Kunstwerkes scheint keine nach dem Bilde gefertigt zu sein, das die Ham¬
burger Kunsthalle enthält: denn jeder, der dieses „Schweigen im Walde" haupt¬
sächlich aus den Reproduktionen kennt oder es sich doch aus ihrer häufigen Be¬
trachtung vorwiegend nach ihnen eingeprägt hat, wird sich, wenn er zum erstenmal
vor dem Bilde im Ecksaal der Hamburger Galerie steht, überrascht fragen, ob diese
weibliche Figur, die auf dem Einhorn ans dem Waldesdunkel auf den freien Aus¬
blick der Lichtung heransrciten will, denn wirklich dieselbe ist, die er so gut aus
seiner Bildermappe zu kennen glaubt; und wirklich, es ist nicht dieselbe. Klar und
mit ausdrucksvollen Zügen reitet — unser Gedächtnis kaun sich nicht täuschen —
eine lebendige Waldfee uns aus dem Dunkel der hochstämmigen Wnldesticfe ent¬
gegen. Hier aber hat sich diese eindrucksvolle Erscheinung in einen Schatten auf¬
gelöst, der kaum Umrisse, viel weniger erkennbare Gesichtszüge trägt. Von den
Strahlen des Abendroth beschienen wendet sich der Kopf des Einhorns dem Lichte
zu, das aus blauer Bergcsferne über die Schlucht der jungen Fichten hinweg zum
Waldessaum den letzten Gruß des scheidenden Tages sendet; aber so scharf abge¬
schnitten, so übergangslos, wie es nnr ein genialer Maler wagen durste, bleibt
dahinter die Reiterin wie verschleiert von den Schatten der Bäume, die dem Lichte
so überraschend mächtig jeden Eintritt wehren, als hätte eine Zauberhand hier eine
Mauer aufgerichtet. Nur dem Genius des Malers konnte es gelingen, trotz dieser
annähernden Unkenntlichkeit der Gestalt des „Schweigens," ihrer Haltung wie
ihrem Antlitz oder richtiger den Schatten von beiden nicht nur Ausdruck zu ver¬
leihen, sondern solchen Ausdruck, so tief und überzeugend, so einheitlich, so voll
stummen, hoffnungslosen Grüns über unabwendbares Schicksal, daß niemand zweifeln
wird, die Reiterin wird, wenn anch sie gleich dem Haupte ihres treuen Einhorns
in das warme Abendlicht hinaustritt, nicht die leiseste Wendung machen, von den
belebenden Strahlen anch Leben in ihr eignes Antlitz einzusaugen. — Schweigen
im Walde! Will Böcklin unsre Sinne in die graue Vorzeit führen, wo die Ein¬
bildung unsrer Vorfahren unser nebelverhülltes Vaterland, die Ac-rin-mis, borriä>>.
silvis, mit phantastischen Gestalten spukhaften Zaubers zu erfüllen liebte, von denen
wir alle in den Märchen unsrer Kinderzeit noch so gern die geheimnisvollen
Spuren genossen haben? Man sollte es fast glauben, wenn man dem sonderbaren
Stirngehörntcn in die überwildgroß vorgetretncn Lichter sieht. Und doch sind es
nicht die fernen Klänge versunkner Jahrtausende, denen wir nach des großen
Malers Absicht andächtig lauschen sollen, nein es ist die eruste, warnende Stimme


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[0230] Maßgebliches und Unmaßgebliches eine, freilich nicht vorhandne englisch-französische Mauer anzurennen. Der franzö¬ sische Minister hat sich nicht nur in bezug auf diese Mauer, sondern auch in bezug auf die Unterstützung verrechnet, auf die er bei der öffentlichen Meinung Frank¬ reichs gehofft hatte. Dazu kommt nun noch die Schwierigkeit, die ihm die russische Flotte in Ostasien bereitet. Das Kunststück, zugleich mit Rußland und mit England in einer ootsuts eoräi^Is zu sein, konnte wohl Bismarck vorübergehend fertig bringen — auch dieser uur vorübergehend —, Delcasft war doch wohl nicht erfahren genug, diese beiden Eisen ans einmal im Feuer halten zu können. Daß er sich nun obendrein auch noch zu Deutschland in unnötige Schwierigkeiten begeben und damit Frankreich in jeder Hinsicht von England abhängig gemacht hat, war für jeden einsichtigen Franzosen ein ooinblo der Ungeschicklichkeit. Daran ist er gescheitert. Wir brauchen in Deutschland nicht darüber zu frohlocken, sondern wollen der weitern Entwicklung kalt und gelassen zusehen. Wie lautet doch der alte Bismarckische Wappenspruch? ^ Weqekraut sollt' stehen la'n! Hüt ti, Jung, s' sind Nesseln dran! »ß» Böcklin und unsre Forsten. Sein „Schweigen im Walde" hat Böcklin, soviel ich weiß, mehrmals gemalt. Von den manchen wohlgelungnen Reproduktionen dieses Kunstwerkes scheint keine nach dem Bilde gefertigt zu sein, das die Ham¬ burger Kunsthalle enthält: denn jeder, der dieses „Schweigen im Walde" haupt¬ sächlich aus den Reproduktionen kennt oder es sich doch aus ihrer häufigen Be¬ trachtung vorwiegend nach ihnen eingeprägt hat, wird sich, wenn er zum erstenmal vor dem Bilde im Ecksaal der Hamburger Galerie steht, überrascht fragen, ob diese weibliche Figur, die auf dem Einhorn ans dem Waldesdunkel auf den freien Aus¬ blick der Lichtung heransrciten will, denn wirklich dieselbe ist, die er so gut aus seiner Bildermappe zu kennen glaubt; und wirklich, es ist nicht dieselbe. Klar und mit ausdrucksvollen Zügen reitet — unser Gedächtnis kaun sich nicht täuschen — eine lebendige Waldfee uns aus dem Dunkel der hochstämmigen Wnldesticfe ent¬ gegen. Hier aber hat sich diese eindrucksvolle Erscheinung in einen Schatten auf¬ gelöst, der kaum Umrisse, viel weniger erkennbare Gesichtszüge trägt. Von den Strahlen des Abendroth beschienen wendet sich der Kopf des Einhorns dem Lichte zu, das aus blauer Bergcsferne über die Schlucht der jungen Fichten hinweg zum Waldessaum den letzten Gruß des scheidenden Tages sendet; aber so scharf abge¬ schnitten, so übergangslos, wie es nnr ein genialer Maler wagen durste, bleibt dahinter die Reiterin wie verschleiert von den Schatten der Bäume, die dem Lichte so überraschend mächtig jeden Eintritt wehren, als hätte eine Zauberhand hier eine Mauer aufgerichtet. Nur dem Genius des Malers konnte es gelingen, trotz dieser annähernden Unkenntlichkeit der Gestalt des „Schweigens," ihrer Haltung wie ihrem Antlitz oder richtiger den Schatten von beiden nicht nur Ausdruck zu ver¬ leihen, sondern solchen Ausdruck, so tief und überzeugend, so einheitlich, so voll stummen, hoffnungslosen Grüns über unabwendbares Schicksal, daß niemand zweifeln wird, die Reiterin wird, wenn anch sie gleich dem Haupte ihres treuen Einhorns in das warme Abendlicht hinaustritt, nicht die leiseste Wendung machen, von den belebenden Strahlen anch Leben in ihr eignes Antlitz einzusaugen. — Schweigen im Walde! Will Böcklin unsre Sinne in die graue Vorzeit führen, wo die Ein¬ bildung unsrer Vorfahren unser nebelverhülltes Vaterland, die Ac-rin-mis, borriä>>. silvis, mit phantastischen Gestalten spukhaften Zaubers zu erfüllen liebte, von denen wir alle in den Märchen unsrer Kinderzeit noch so gern die geheimnisvollen Spuren genossen haben? Man sollte es fast glauben, wenn man dem sonderbaren Stirngehörntcn in die überwildgroß vorgetretncn Lichter sieht. Und doch sind es nicht die fernen Klänge versunkner Jahrtausende, denen wir nach des großen Malers Absicht andächtig lauschen sollen, nein es ist die eruste, warnende Stimme

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/230>, abgerufen am 07.05.2024.