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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Schiller

aß die Schätzung einer Persönlichkeit und ihrer Leistungen zu
allen Zeiten gleich bleibe, wird ein auch nur mäßiger Psychologe
oder Beobachter der Geschichte weder erwarten noch verlangen.
Züre es schon nicht nötig, zuweilen den Schmuck der Legende
abzureißen oder eine Überlieferung von Schmutz zu befreien, so
kühlt sich ganz natürlich die Empfänglichkeit für eine Leistung ab, die schon,
als ihr Urheber eben aufstrebte, mit Sympathie, Antipathie oder ruhig ab¬
wägenden Gründen aufgenommen wurde. Was jemand den Bedürfnissen seiner
Gegenwart war, kann er nicht ohne weiteres jeder beliebigen Zeit sein. Mußten
doch sogar die Kunstwerke des größten modernen Dramatikers in der Zahl der
Aufführungen hinter Beaumont und Fletcher zurückstehn. Was einst die Ge¬
müter leidenschaftlich erregte, ist oft nach hundert Jahren, und schon zeitiger,
gleichgiltig geworden. Innerhalb kurzer Zeiträume wechselt das Interesse, und
Dramatiker wie Äschylus und Euripides überraschen durch tiefgehende Ver¬
schiedenheit. Wie undenkbar wäre vollends, alles in allem, auf unsrer Bühne
der geniale Aristophanes, obgleich sich durch eine gewisse Klasse ständig bei
uns eingeführter Stücke ungefähr wiederholt, was Schiller schon 1782 bemerkte,
daß das große Heer unsrer süßen Müßiggänger vom Theater mit galanten
Zoten bereichert wird.

Es ist einmal eine Eigenschaft des Alters, daß es an Menschen und ihren
Werken ein unerbittliches Subtraktionsexempel vollzieht. Außer der Farbe der
Jugend nimmt es den Hauch des Zukunftsvollen. Manche Blüte der bildenden
Kunst ist abgewelkt bis zum Fossilen, manche einst berühmte Musik mutet uns
an wie hölzernes Geklapper oder greisenhaftes Gelispel.

Und doch, ließe man jetzt, hundert Jahre nach Schillers Tode, die Deutschen
abstimmen, dabei uach Schillers Anweisung die Stimmen nicht bloß zählend,
sondern auch wagend, so behielte wohl noch immer Goethe Recht mit den, stolzen
Wort: Er war unser. Daneben gibt es freilich Kritiker mit dem Sehfehler,
das Große klein und das Kleine groß zu finden. Sie sind in die Höhenkunst
ihrer Verneinung verliebt und hitzig darauf bedacht, ihr Übermütchen an den
Großen der Vergangenheit zu kühlen, die wie hohe, stille Berge in die dunstigen


Grenzboten II 1905 ^


Schiller

aß die Schätzung einer Persönlichkeit und ihrer Leistungen zu
allen Zeiten gleich bleibe, wird ein auch nur mäßiger Psychologe
oder Beobachter der Geschichte weder erwarten noch verlangen.
Züre es schon nicht nötig, zuweilen den Schmuck der Legende
abzureißen oder eine Überlieferung von Schmutz zu befreien, so
kühlt sich ganz natürlich die Empfänglichkeit für eine Leistung ab, die schon,
als ihr Urheber eben aufstrebte, mit Sympathie, Antipathie oder ruhig ab¬
wägenden Gründen aufgenommen wurde. Was jemand den Bedürfnissen seiner
Gegenwart war, kann er nicht ohne weiteres jeder beliebigen Zeit sein. Mußten
doch sogar die Kunstwerke des größten modernen Dramatikers in der Zahl der
Aufführungen hinter Beaumont und Fletcher zurückstehn. Was einst die Ge¬
müter leidenschaftlich erregte, ist oft nach hundert Jahren, und schon zeitiger,
gleichgiltig geworden. Innerhalb kurzer Zeiträume wechselt das Interesse, und
Dramatiker wie Äschylus und Euripides überraschen durch tiefgehende Ver¬
schiedenheit. Wie undenkbar wäre vollends, alles in allem, auf unsrer Bühne
der geniale Aristophanes, obgleich sich durch eine gewisse Klasse ständig bei
uns eingeführter Stücke ungefähr wiederholt, was Schiller schon 1782 bemerkte,
daß das große Heer unsrer süßen Müßiggänger vom Theater mit galanten
Zoten bereichert wird.

Es ist einmal eine Eigenschaft des Alters, daß es an Menschen und ihren
Werken ein unerbittliches Subtraktionsexempel vollzieht. Außer der Farbe der
Jugend nimmt es den Hauch des Zukunftsvollen. Manche Blüte der bildenden
Kunst ist abgewelkt bis zum Fossilen, manche einst berühmte Musik mutet uns
an wie hölzernes Geklapper oder greisenhaftes Gelispel.

Und doch, ließe man jetzt, hundert Jahre nach Schillers Tode, die Deutschen
abstimmen, dabei uach Schillers Anweisung die Stimmen nicht bloß zählend,
sondern auch wagend, so behielte wohl noch immer Goethe Recht mit den, stolzen
Wort: Er war unser. Daneben gibt es freilich Kritiker mit dem Sehfehler,
das Große klein und das Kleine groß zu finden. Sie sind in die Höhenkunst
ihrer Verneinung verliebt und hitzig darauf bedacht, ihr Übermütchen an den
Großen der Vergangenheit zu kühlen, die wie hohe, stille Berge in die dunstigen


Grenzboten II 1905 ^
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[0237] [Abbildung] Schiller aß die Schätzung einer Persönlichkeit und ihrer Leistungen zu allen Zeiten gleich bleibe, wird ein auch nur mäßiger Psychologe oder Beobachter der Geschichte weder erwarten noch verlangen. Züre es schon nicht nötig, zuweilen den Schmuck der Legende abzureißen oder eine Überlieferung von Schmutz zu befreien, so kühlt sich ganz natürlich die Empfänglichkeit für eine Leistung ab, die schon, als ihr Urheber eben aufstrebte, mit Sympathie, Antipathie oder ruhig ab¬ wägenden Gründen aufgenommen wurde. Was jemand den Bedürfnissen seiner Gegenwart war, kann er nicht ohne weiteres jeder beliebigen Zeit sein. Mußten doch sogar die Kunstwerke des größten modernen Dramatikers in der Zahl der Aufführungen hinter Beaumont und Fletcher zurückstehn. Was einst die Ge¬ müter leidenschaftlich erregte, ist oft nach hundert Jahren, und schon zeitiger, gleichgiltig geworden. Innerhalb kurzer Zeiträume wechselt das Interesse, und Dramatiker wie Äschylus und Euripides überraschen durch tiefgehende Ver¬ schiedenheit. Wie undenkbar wäre vollends, alles in allem, auf unsrer Bühne der geniale Aristophanes, obgleich sich durch eine gewisse Klasse ständig bei uns eingeführter Stücke ungefähr wiederholt, was Schiller schon 1782 bemerkte, daß das große Heer unsrer süßen Müßiggänger vom Theater mit galanten Zoten bereichert wird. Es ist einmal eine Eigenschaft des Alters, daß es an Menschen und ihren Werken ein unerbittliches Subtraktionsexempel vollzieht. Außer der Farbe der Jugend nimmt es den Hauch des Zukunftsvollen. Manche Blüte der bildenden Kunst ist abgewelkt bis zum Fossilen, manche einst berühmte Musik mutet uns an wie hölzernes Geklapper oder greisenhaftes Gelispel. Und doch, ließe man jetzt, hundert Jahre nach Schillers Tode, die Deutschen abstimmen, dabei uach Schillers Anweisung die Stimmen nicht bloß zählend, sondern auch wagend, so behielte wohl noch immer Goethe Recht mit den, stolzen Wort: Er war unser. Daneben gibt es freilich Kritiker mit dem Sehfehler, das Große klein und das Kleine groß zu finden. Sie sind in die Höhenkunst ihrer Verneinung verliebt und hitzig darauf bedacht, ihr Übermütchen an den Großen der Vergangenheit zu kühlen, die wie hohe, stille Berge in die dunstigen Grenzboten II 1905 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/237>, abgerufen am 07.05.2024.