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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Gin Familienbild ans der Zeit des großen Krieges

durch soziale Tätigkeit die Daseinsberechtigung der christlichen Kirche für unsre
Zeit aufs neue zu erweisen, und sie wetteifern in der Gründung und Leitung
von Gewerkvereinen, Arbeitervereinen, Jünglingsvereinen, Darlehnsvereinen,
landwirtschaftlichen Genossenschaften. Und auch um eine gründliche Reform des
Religionsunterrichts werden sie nicht herumkommen.




Gin jamilienbild aus der Zeit des großen Krieges
von G. Liede

>iMK >,eilen verstärkten nationalen Empfindens pflegen dem Volkstum
erhöhte Teilnahme entgegenzubringen und damit der kultur¬
geschichtlichen Forschung einen günstigen Boden zu bieten. Was
schon im sechzehnten Jahrhundert zutage tritt, was zu Anfang
des neunzehnten ein Kennzeichen der romantischen Richtung ist,
das hat auch in die Geschichtschreibung der letzten Jahrzehnte einen charak¬
teristischen Zug gebracht. Die Kulturgeschichte will uicht mehr die Rumpel¬
kammer sein, die für dilettantisches Interesse "Altertümer" in malerischer Un¬
ordnung aufbewahrt. Ihr vielumstrittnes Wesen kennzeichnen am feinsten die
Worte eines ihrer Pfadfinder, Gustav Freytags: "das Leben des Volkes,
welches unter seiner politischen Geschichte in dunkler unablässiger Strömung
dahinflutet." In demselben Sinne bezeichnet die kürzlich erschienene erste
systematische Darstellung*) den deutschen Menschen als ihren Gegenstand.
Denn höher als die äußern Lebensformen steht der Kulturgeschichte das
Innenleben und seine Gestaltung unter dem Einfluß der wechselnden Zeit¬
verhältnisse.

Wenn sich unter den seelischen Kräften gerade für den Deutschen als eine
der bestimmenden immer das Gemüt erwiesen hat, so rechtfertigt sich die Be¬
achtung, die ihm die Kulturgeschichte widmete. Die Erneuerung von Freytags
Doktordiplom rühmt "den Historiker, der den Werdegang des deutschen Gemüts
durch die Jahrhunderte verfolgt hat." Sein Verdienst ist es, gegenüber den
meist zu Unrecht vorgezognen dichterischen Quellen auf die unbefangnen Zeug¬
nisse der Briefe und der Autobiographien hingewiesen zu haben. Sie lieferten
ihm die Farben zu einer Reihe klassischer Bilder des Familienlebens, das in
der Dichtung natürlich weniger Berücksichtigung gefunden hat. Die Familie
ist die Grundlage staatlicher wie sittlicher Ordnung, und ihre Wertschätzung
ist ein untrügliches Maß für die Gesundheit eines Volks. Den Deutschen
von Anbeginn heilig hat sie im Recht bis zum dreizehnten Jahrhundert, in
der Sitte weit länger beherrschenden Einfluß gewahrt und empfing neue Kraft
von der religiös-sittlichen Wiedergeburt der Reformation. Diese neu gefestigte
Familienzucht ist eine der Mächte gewesen, die das deutsche Volkstum aufrecht
erhielten, als die Stürme des großen Kriegs mit den materiellen auch die



^) Steinhaufen, Geschichte der deutschen Kultur.
Gin Familienbild ans der Zeit des großen Krieges

durch soziale Tätigkeit die Daseinsberechtigung der christlichen Kirche für unsre
Zeit aufs neue zu erweisen, und sie wetteifern in der Gründung und Leitung
von Gewerkvereinen, Arbeitervereinen, Jünglingsvereinen, Darlehnsvereinen,
landwirtschaftlichen Genossenschaften. Und auch um eine gründliche Reform des
Religionsunterrichts werden sie nicht herumkommen.




Gin jamilienbild aus der Zeit des großen Krieges
von G. Liede

>iMK >,eilen verstärkten nationalen Empfindens pflegen dem Volkstum
erhöhte Teilnahme entgegenzubringen und damit der kultur¬
geschichtlichen Forschung einen günstigen Boden zu bieten. Was
schon im sechzehnten Jahrhundert zutage tritt, was zu Anfang
des neunzehnten ein Kennzeichen der romantischen Richtung ist,
das hat auch in die Geschichtschreibung der letzten Jahrzehnte einen charak¬
teristischen Zug gebracht. Die Kulturgeschichte will uicht mehr die Rumpel¬
kammer sein, die für dilettantisches Interesse „Altertümer" in malerischer Un¬
ordnung aufbewahrt. Ihr vielumstrittnes Wesen kennzeichnen am feinsten die
Worte eines ihrer Pfadfinder, Gustav Freytags: „das Leben des Volkes,
welches unter seiner politischen Geschichte in dunkler unablässiger Strömung
dahinflutet." In demselben Sinne bezeichnet die kürzlich erschienene erste
systematische Darstellung*) den deutschen Menschen als ihren Gegenstand.
Denn höher als die äußern Lebensformen steht der Kulturgeschichte das
Innenleben und seine Gestaltung unter dem Einfluß der wechselnden Zeit¬
verhältnisse.

Wenn sich unter den seelischen Kräften gerade für den Deutschen als eine
der bestimmenden immer das Gemüt erwiesen hat, so rechtfertigt sich die Be¬
achtung, die ihm die Kulturgeschichte widmete. Die Erneuerung von Freytags
Doktordiplom rühmt „den Historiker, der den Werdegang des deutschen Gemüts
durch die Jahrhunderte verfolgt hat." Sein Verdienst ist es, gegenüber den
meist zu Unrecht vorgezognen dichterischen Quellen auf die unbefangnen Zeug¬
nisse der Briefe und der Autobiographien hingewiesen zu haben. Sie lieferten
ihm die Farben zu einer Reihe klassischer Bilder des Familienlebens, das in
der Dichtung natürlich weniger Berücksichtigung gefunden hat. Die Familie
ist die Grundlage staatlicher wie sittlicher Ordnung, und ihre Wertschätzung
ist ein untrügliches Maß für die Gesundheit eines Volks. Den Deutschen
von Anbeginn heilig hat sie im Recht bis zum dreizehnten Jahrhundert, in
der Sitte weit länger beherrschenden Einfluß gewahrt und empfing neue Kraft
von der religiös-sittlichen Wiedergeburt der Reformation. Diese neu gefestigte
Familienzucht ist eine der Mächte gewesen, die das deutsche Volkstum aufrecht
erhielten, als die Stürme des großen Kriegs mit den materiellen auch die



^) Steinhaufen, Geschichte der deutschen Kultur.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/44>, abgerufen am 07.05.2024.