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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Die moralischen Wochenschriften

geschoben ist ja nicht aufgehoben --, lasse die nützlichen Auskunftsstellen
bestehn, gehe zunächst an die Reorganisation der Einzelbibliotheken und
schiebe alle uferlosen Pinne beiseite. Wie sagte doch Bismarck? Huista um
Bromios inovsrö!




Die moralischen Wochenschriften
von I. Lckardt
2. Das goldne Zeitalter der moralischen Wochenschriften in Deutschland

MM
KW
ÄMWin Jahre 1721 trat in der Schweiz die Wochenschrift ins Leben,
die bis jetzt vielfach fälschlich für die erste moralische in deutscher
Sprache gehalten worden ist, die von Bodmer und Breitinger in
Zürich herausgegebnen "Diskurse der Maler," die sich, wie in
der Vorrede betont wird, eng an die englischen Vorbilder an¬
schlössen und durch die englischen Wochenschriften zu ihrem Erscheinen angeregt
wurden. "Diskurse" nannte man die einzelnen Abhandlungen, weil sie zum
größten Teil aus mündlichen Unterredungen der Herausgeber mit andern
Züricher literarischen Persönlichkeiten hervorgingen, Diskurse der Maler, weil
die beabsichtigten Sittenschilderungen als kleine Gemälde betrachtet werden
sollten und deshalb auch mit den Namen berühmter Meister unterzeichnet
wurden; Bodmer hat zum Beispiel mit Rubens unterzeichnet. Die Heraus¬
geber dieser Zeitschrift haben dieselben Ziele wie die englischen Vorbilder, sie
bringen Erörterungen über alles, was das Leben bewegt, über Tugenden und
Laster, über Sitten und Gebräuche, über Alltäglichkeiten und große zeit¬
bewegende Dinge, aber sie errangen nicht den Erfolg ihrer Vorbilder. Die
Teilnahme des Publikums war gering, die Sprache ungelenk, Verdrießlich¬
keiten und polizeiliche Eingriffe erschwerten die Entwicklung. So gaben die
Herausgeber ihr Unternehmen schon 1723 wieder auf. Hettner erwähnt eine
Fortsetzung dieser Zeitschrift: "Der Maler der Sitten" aus dem Jahre 1729;
nach neuern Forschungen scheint hier jedoch ein Irrtum vorzuliegen, denn
erst 1746 ist eine Neuausgabe der "Diskurse der Maler" unter diesem Titel
erschienen.

Die Diskurse fanden auch in Bern eifrige Leser, vor allem suchte Johann
Georg Altmann dort für die Verbreitung zu wirken und meldete sich als
Mitarbeiter. Mancherlei Verstimmungen -- ein Artikel von ihm war zuerst
angenommen, dann aber lange nicht veröffentlicht und schließlich so umgear¬
beitet worden, daß mau das Original kaum wieder erkannte, einen andern
Artikel hatte er fälschlich als auf sich gemünzt betrachtet -- hatten Altmann
schließlich bewogen, ein ähnliches Unternehmen in Bern zu gründen. Eine
kürzlich erschienene Monographie von Jöcher (Bern 1902) beschäftigt sich mit
dieser Vermischen Neuen Gesellschaft und ihrer Wochenschrift: dem "Beimischen
Freitagsblüttlein."


GronzluUen II 1905 "1
Die moralischen Wochenschriften

geschoben ist ja nicht aufgehoben —, lasse die nützlichen Auskunftsstellen
bestehn, gehe zunächst an die Reorganisation der Einzelbibliotheken und
schiebe alle uferlosen Pinne beiseite. Wie sagte doch Bismarck? Huista um
Bromios inovsrö!




Die moralischen Wochenschriften
von I. Lckardt
2. Das goldne Zeitalter der moralischen Wochenschriften in Deutschland

MM
KW
ÄMWin Jahre 1721 trat in der Schweiz die Wochenschrift ins Leben,
die bis jetzt vielfach fälschlich für die erste moralische in deutscher
Sprache gehalten worden ist, die von Bodmer und Breitinger in
Zürich herausgegebnen „Diskurse der Maler," die sich, wie in
der Vorrede betont wird, eng an die englischen Vorbilder an¬
schlössen und durch die englischen Wochenschriften zu ihrem Erscheinen angeregt
wurden. „Diskurse" nannte man die einzelnen Abhandlungen, weil sie zum
größten Teil aus mündlichen Unterredungen der Herausgeber mit andern
Züricher literarischen Persönlichkeiten hervorgingen, Diskurse der Maler, weil
die beabsichtigten Sittenschilderungen als kleine Gemälde betrachtet werden
sollten und deshalb auch mit den Namen berühmter Meister unterzeichnet
wurden; Bodmer hat zum Beispiel mit Rubens unterzeichnet. Die Heraus¬
geber dieser Zeitschrift haben dieselben Ziele wie die englischen Vorbilder, sie
bringen Erörterungen über alles, was das Leben bewegt, über Tugenden und
Laster, über Sitten und Gebräuche, über Alltäglichkeiten und große zeit¬
bewegende Dinge, aber sie errangen nicht den Erfolg ihrer Vorbilder. Die
Teilnahme des Publikums war gering, die Sprache ungelenk, Verdrießlich¬
keiten und polizeiliche Eingriffe erschwerten die Entwicklung. So gaben die
Herausgeber ihr Unternehmen schon 1723 wieder auf. Hettner erwähnt eine
Fortsetzung dieser Zeitschrift: „Der Maler der Sitten" aus dem Jahre 1729;
nach neuern Forschungen scheint hier jedoch ein Irrtum vorzuliegen, denn
erst 1746 ist eine Neuausgabe der „Diskurse der Maler" unter diesem Titel
erschienen.

Die Diskurse fanden auch in Bern eifrige Leser, vor allem suchte Johann
Georg Altmann dort für die Verbreitung zu wirken und meldete sich als
Mitarbeiter. Mancherlei Verstimmungen — ein Artikel von ihm war zuerst
angenommen, dann aber lange nicht veröffentlicht und schließlich so umgear¬
beitet worden, daß mau das Original kaum wieder erkannte, einen andern
Artikel hatte er fälschlich als auf sich gemünzt betrachtet — hatten Altmann
schließlich bewogen, ein ähnliches Unternehmen in Bern zu gründen. Eine
kürzlich erschienene Monographie von Jöcher (Bern 1902) beschäftigt sich mit
dieser Vermischen Neuen Gesellschaft und ihrer Wochenschrift: dem „Beimischen
Freitagsblüttlein."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/485>, abgerufen am 07.05.2024.