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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die äußere Politik Frankreichs
(Schluß)

anz anders liegen die Dinge zwischen England und Frankreich.
Die Entente ist dem französischen Volke nie Herzenssache gewesen
und kann sie auch nie werden. Der Engländer bildet als Mensch
die Inkarnation alles dessen, was dem Franzosen unsympathisch
ist. Dem widerspricht nicht die Nachäfferei englischer Krawatten
und sonstiger englischer Moden, die krankhafte Überschätzung des Sports in
seinen angelsächsischen Formen, die massenhafte Einwanderung englischer Worte
w die französische Umgangssprache. Die Entente ist, soweit Frankreich in Frage
kommt, ein Werk zweier Gruppen. Einmal der Politiker aus der altliberalen
Schule, denen schon von Louis Philipp und dann vom zweiten Kaiserreich her
der Traum von der Allianz der Westmächte vorschwebt. Bevor die Entwicklung
der ägyptischen Frage die beiden Nachbarn fast vor den diplomatischen Bruch
drängte, war auch Gambetta ein eifriger Mitarbeiter am Werk einer englisch-
französischen Annäherung. Im Jahre 1878 sagte er: "Die Interessen Frank¬
reichs und Englands, der beiden liberalsten, industrie- und ertragreichsten
und wohlhabendsten Länder Europas, siud so eng miteinander verknüpft, daß
die Abkehr Großbritanniens von seiner abgeschlossenen Politik zugleich beide
Staaten aus der Isolierung heraustreten läßt, in der sie sich vorübergehend
befanden." Was es mit der Interessengemeinschaft Frankreichs und Englands
in Wahrheit auf sich hat, zeigt ein flüchtiger Blick auf die Geschichte seit den
Tagen Philipp Augusts bis Faschoda und Mascat. Ein genaueres Studium
belehrt uns sogar darüber, daß man im Gegensatz zu den Gambettaschen Redens¬
arten eine immanente Feindseligkeit des englischen und des französischen Volks
gegeneinander seit Jahrhunderten feststellen kann; ja man kann sagen, daß so
sehr der habsburgisch-bourbonische Antagonismus die Politik der Diplomaten in
Paris in den letzten Jahrhunderten beherrschte, die Abneigung gegen die Insulaner
sogar die Seele der Volkspolitik Frankreichs war und heute noch ist. Es ist
sehr bezeichnend, daß diese Abneigung am stärksten im Norden ist, in der Bre¬
tagne, Normandie und Picardie, wo man die Briten am genausten kennt.
Dieser im französischen Volke schlummernde Haß gegen England hat zweifellos
zu dem so begeistert gepflegten Jeanne d'Arc-Kultus viel beigetragen, und der
erste Napoleon ist in seiner unversöhnlichen Feindseligkeit gegen die Briten der
wahre Träger der Ideen des Volks geworden. Cassagnac, der Bonapartist,
sprach es noch vor einigen Jahren offen aus, daß Frankreich nur einen Erb¬
feind kenne, England. Der Streit mit Deutschland sei demgegenüber nur eine
ephemere Erscheinung und nicht in der Natur der beiden Völker begründet.
Natürlich würde sich aber auch für diese Anglophoben das Bild verschieben,




Deutschland und die äußere Politik Frankreichs
(Schluß)

anz anders liegen die Dinge zwischen England und Frankreich.
Die Entente ist dem französischen Volke nie Herzenssache gewesen
und kann sie auch nie werden. Der Engländer bildet als Mensch
die Inkarnation alles dessen, was dem Franzosen unsympathisch
ist. Dem widerspricht nicht die Nachäfferei englischer Krawatten
und sonstiger englischer Moden, die krankhafte Überschätzung des Sports in
seinen angelsächsischen Formen, die massenhafte Einwanderung englischer Worte
w die französische Umgangssprache. Die Entente ist, soweit Frankreich in Frage
kommt, ein Werk zweier Gruppen. Einmal der Politiker aus der altliberalen
Schule, denen schon von Louis Philipp und dann vom zweiten Kaiserreich her
der Traum von der Allianz der Westmächte vorschwebt. Bevor die Entwicklung
der ägyptischen Frage die beiden Nachbarn fast vor den diplomatischen Bruch
drängte, war auch Gambetta ein eifriger Mitarbeiter am Werk einer englisch-
französischen Annäherung. Im Jahre 1878 sagte er: „Die Interessen Frank¬
reichs und Englands, der beiden liberalsten, industrie- und ertragreichsten
und wohlhabendsten Länder Europas, siud so eng miteinander verknüpft, daß
die Abkehr Großbritanniens von seiner abgeschlossenen Politik zugleich beide
Staaten aus der Isolierung heraustreten läßt, in der sie sich vorübergehend
befanden." Was es mit der Interessengemeinschaft Frankreichs und Englands
in Wahrheit auf sich hat, zeigt ein flüchtiger Blick auf die Geschichte seit den
Tagen Philipp Augusts bis Faschoda und Mascat. Ein genaueres Studium
belehrt uns sogar darüber, daß man im Gegensatz zu den Gambettaschen Redens¬
arten eine immanente Feindseligkeit des englischen und des französischen Volks
gegeneinander seit Jahrhunderten feststellen kann; ja man kann sagen, daß so
sehr der habsburgisch-bourbonische Antagonismus die Politik der Diplomaten in
Paris in den letzten Jahrhunderten beherrschte, die Abneigung gegen die Insulaner
sogar die Seele der Volkspolitik Frankreichs war und heute noch ist. Es ist
sehr bezeichnend, daß diese Abneigung am stärksten im Norden ist, in der Bre¬
tagne, Normandie und Picardie, wo man die Briten am genausten kennt.
Dieser im französischen Volke schlummernde Haß gegen England hat zweifellos
zu dem so begeistert gepflegten Jeanne d'Arc-Kultus viel beigetragen, und der
erste Napoleon ist in seiner unversöhnlichen Feindseligkeit gegen die Briten der
wahre Träger der Ideen des Volks geworden. Cassagnac, der Bonapartist,
sprach es noch vor einigen Jahren offen aus, daß Frankreich nur einen Erb¬
feind kenne, England. Der Streit mit Deutschland sei demgegenüber nur eine
ephemere Erscheinung und nicht in der Natur der beiden Völker begründet.
Natürlich würde sich aber auch für diese Anglophoben das Bild verschieben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/79>, abgerufen am 07.05.2024.