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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr.

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Das Dichtergemüt

ihnen findet. Aber was wird aus dem Paphlagonier? Agorakritvs ant¬
w Nichts Schlimmes, Mein Geschäft soll er erhalten,

Soll Fleisch zusammenhacken, Wurst verkaufen,

Berauscht sich mit den Gassendirnen zanken,

Schmutzwasser aus den Badestuben saufen.

ortet:




Das Dichtergemüt
Alfred Biese i von n
(Schluß)

er Dichter schließt den Schacht verborgner Tiefen auf, und
sein Wunderschlüssel ist die Analogie, ist die Übertragung des
Geistigen auf das Sinnliche, kurz das Metaphorische. Und
wer sagt uns, daß der Dichter nicht auch Philosoph ist, und
Idaß er nicht recht habe mit dieser Weltauffassung? Die Natur
nannten auch große Philosophen einen schlummernden Geist, und der große
Psychophysiker Fechner kennt nichts Unbeseeltes in dem Weltenall. Freilich
vor allem, weil er nicht nur experimenteller Naturforscher, sondern auch
Dichter war. Aber ist überhaupt in den großen metaphysischen Lehrgebäuden
die Grenze zu ziehn, wo die Wissenschaft aufhört und die Phantasie ihren
kühnen Flug zu den Wolken anhebt? Sind nicht die Philosophien Platos,
Hegels, Schellings, Schopenhauers großartige Gedankendichtungen? Die
Phantasie mischt eben überall ihre Farben hinein; der Mensch ist das Maß
aller Dinge, und "das Gefühl belebt das Unbelebte," sogar das Abstrakte,
die toten Begriffe. Zu allen Zeiten haben die Dichter, kraft der person¬
bildenden Phantasie, Hoffnung, Furcht, Neid, Haß, Liebe, Krieg, Sorge,
Armut, Recht, Reichtum usw. zu Wesen voll individuellen Lebens gestaltet.
In der Welt des Dichters schlägt der Geier Tod die dunkeln Schwingen dem
Unglücklichen um das Haupt, oder der bleiche Gesell pocht mit seinem Fuße
an die Pforten der Schüferhütten und der Königsschlösser. Ins bunte Mahl
greift er mit eisigkaltcr Faust und streift die Rosen von den Wangen. Die
Sorge steigt sogar auf das eherne Schiff und bleibt nicht hinter den Reiter¬
zügen zurück, schnell wie Hirsche im Laufe, schnell wie der Ostwind. So bei
Horaz (II 16 und II11): "Das drohende Gespenst der Furcht wandelt überall
mit dem Herrn; nicht weicht sie von dem gepanzerten Dreidecker, und hinter
dem Reiter hockt die schwarze Sorge." Und bei Goethe, am Schlüsse des
zweiten Teils des Faust, spricht das "graue Weib," die Sorge:


Würde mich kein Ohr vernehmen,
Würd' es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
Üb' ich grimmige Gewalt,
Auf den Pfaden, auf der Welle,
Ewig ängstlicher Geselle;
Stets gefunden, nie gesucht,
So geschmeichelt wie verflucht,
Hast du die Sorge nie gekannt?

Grenzboten I 1906 49
Das Dichtergemüt

ihnen findet. Aber was wird aus dem Paphlagonier? Agorakritvs ant¬
w Nichts Schlimmes, Mein Geschäft soll er erhalten,

Soll Fleisch zusammenhacken, Wurst verkaufen,

Berauscht sich mit den Gassendirnen zanken,

Schmutzwasser aus den Badestuben saufen.

ortet:




Das Dichtergemüt
Alfred Biese i von n
(Schluß)

er Dichter schließt den Schacht verborgner Tiefen auf, und
sein Wunderschlüssel ist die Analogie, ist die Übertragung des
Geistigen auf das Sinnliche, kurz das Metaphorische. Und
wer sagt uns, daß der Dichter nicht auch Philosoph ist, und
Idaß er nicht recht habe mit dieser Weltauffassung? Die Natur
nannten auch große Philosophen einen schlummernden Geist, und der große
Psychophysiker Fechner kennt nichts Unbeseeltes in dem Weltenall. Freilich
vor allem, weil er nicht nur experimenteller Naturforscher, sondern auch
Dichter war. Aber ist überhaupt in den großen metaphysischen Lehrgebäuden
die Grenze zu ziehn, wo die Wissenschaft aufhört und die Phantasie ihren
kühnen Flug zu den Wolken anhebt? Sind nicht die Philosophien Platos,
Hegels, Schellings, Schopenhauers großartige Gedankendichtungen? Die
Phantasie mischt eben überall ihre Farben hinein; der Mensch ist das Maß
aller Dinge, und „das Gefühl belebt das Unbelebte," sogar das Abstrakte,
die toten Begriffe. Zu allen Zeiten haben die Dichter, kraft der person¬
bildenden Phantasie, Hoffnung, Furcht, Neid, Haß, Liebe, Krieg, Sorge,
Armut, Recht, Reichtum usw. zu Wesen voll individuellen Lebens gestaltet.
In der Welt des Dichters schlägt der Geier Tod die dunkeln Schwingen dem
Unglücklichen um das Haupt, oder der bleiche Gesell pocht mit seinem Fuße
an die Pforten der Schüferhütten und der Königsschlösser. Ins bunte Mahl
greift er mit eisigkaltcr Faust und streift die Rosen von den Wangen. Die
Sorge steigt sogar auf das eherne Schiff und bleibt nicht hinter den Reiter¬
zügen zurück, schnell wie Hirsche im Laufe, schnell wie der Ostwind. So bei
Horaz (II 16 und II11): „Das drohende Gespenst der Furcht wandelt überall
mit dem Herrn; nicht weicht sie von dem gepanzerten Dreidecker, und hinter
dem Reiter hockt die schwarze Sorge." Und bei Goethe, am Schlüsse des
zweiten Teils des Faust, spricht das „graue Weib," die Sorge:


Würde mich kein Ohr vernehmen,
Würd' es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
Üb' ich grimmige Gewalt,
Auf den Pfaden, auf der Welle,
Ewig ängstlicher Geselle;
Stets gefunden, nie gesucht,
So geschmeichelt wie verflucht,
Hast du die Sorge nie gekannt?

Grenzboten I 1906 49
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[0385] Das Dichtergemüt ihnen findet. Aber was wird aus dem Paphlagonier? Agorakritvs ant¬ w Nichts Schlimmes, Mein Geschäft soll er erhalten, Soll Fleisch zusammenhacken, Wurst verkaufen, Berauscht sich mit den Gassendirnen zanken, Schmutzwasser aus den Badestuben saufen. ortet: Das Dichtergemüt Alfred Biese i von n (Schluß) er Dichter schließt den Schacht verborgner Tiefen auf, und sein Wunderschlüssel ist die Analogie, ist die Übertragung des Geistigen auf das Sinnliche, kurz das Metaphorische. Und wer sagt uns, daß der Dichter nicht auch Philosoph ist, und Idaß er nicht recht habe mit dieser Weltauffassung? Die Natur nannten auch große Philosophen einen schlummernden Geist, und der große Psychophysiker Fechner kennt nichts Unbeseeltes in dem Weltenall. Freilich vor allem, weil er nicht nur experimenteller Naturforscher, sondern auch Dichter war. Aber ist überhaupt in den großen metaphysischen Lehrgebäuden die Grenze zu ziehn, wo die Wissenschaft aufhört und die Phantasie ihren kühnen Flug zu den Wolken anhebt? Sind nicht die Philosophien Platos, Hegels, Schellings, Schopenhauers großartige Gedankendichtungen? Die Phantasie mischt eben überall ihre Farben hinein; der Mensch ist das Maß aller Dinge, und „das Gefühl belebt das Unbelebte," sogar das Abstrakte, die toten Begriffe. Zu allen Zeiten haben die Dichter, kraft der person¬ bildenden Phantasie, Hoffnung, Furcht, Neid, Haß, Liebe, Krieg, Sorge, Armut, Recht, Reichtum usw. zu Wesen voll individuellen Lebens gestaltet. In der Welt des Dichters schlägt der Geier Tod die dunkeln Schwingen dem Unglücklichen um das Haupt, oder der bleiche Gesell pocht mit seinem Fuße an die Pforten der Schüferhütten und der Königsschlösser. Ins bunte Mahl greift er mit eisigkaltcr Faust und streift die Rosen von den Wangen. Die Sorge steigt sogar auf das eherne Schiff und bleibt nicht hinter den Reiter¬ zügen zurück, schnell wie Hirsche im Laufe, schnell wie der Ostwind. So bei Horaz (II 16 und II11): „Das drohende Gespenst der Furcht wandelt überall mit dem Herrn; nicht weicht sie von dem gepanzerten Dreidecker, und hinter dem Reiter hockt die schwarze Sorge." Und bei Goethe, am Schlüsse des zweiten Teils des Faust, spricht das „graue Weib," die Sorge: Würde mich kein Ohr vernehmen, Würd' es doch im Herzen dröhnen; In verwandelter Gestalt Üb' ich grimmige Gewalt, Auf den Pfaden, auf der Welle, Ewig ängstlicher Geselle; Stets gefunden, nie gesucht, So geschmeichelt wie verflucht, Hast du die Sorge nie gekannt? Grenzboten I 1906 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_298274/385>, abgerufen am 08.05.2024.