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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr.

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T>as Dichtergemüt

So heißt es in "Alexis und Dom": "Wenn die Sorge sich kalt, gräßlich
gelassen mir naht." Bei Heine: "An meinem Bett in der Mitternacht als
Wärterin die Sorge wacht."

Storm singt von dem Geier Schmerz, Goethe nennt die Hoffnung die
Schwester der Phantasie, die Treiberin und Trösterin, andre preisen die Frau
Sehnsucht mit den großen verträumten Augen oder die Liebe, die mit glühenden
Blicken dich anschaut, das Glück, das auf leisen Zehen geschlichen kommt, die
Zeit als einen wundertütigen Engel, als allgebietenden Herrscher oder als eine
greise Vagantin, deren Fuß gleichgiltig niedertritt, was untergehn muß, und
Heine dichtet: "Die Stunden sind aber ein faules Volk! Schleppen sich be¬
haglich träge, schleichen gähnend ihre Wege; tummle dich, du faules Volk."
Der Morgen grüßt mit Herrscherblick der Berge Häupter oder lächelt froh der
Nacht ins Angesicht, sodaß die matte Finsternis flieht, wankend wie betrunken;
die tauige Morgenfrühe verjagt mit warmem Hauch, mit blumenheitern Wangen,
scherzend all den Wolkendunst. Wie wundervoll beseelt Mörike den Tag in
den Zeilen:

Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn;
Die Purpurlippe, die geschlossen lag,
Hauche, halbgeöffnet, süße Atemzüge:
Auf einmal blitzt das Aug', und, wie ein Gott, der Tag
Beginnt im Sprung die königlichen Flüge!

Warum ist hier alles poetisch? Weil alles Anschauung und Empfindung
zugleich, weil alles Leben und Bewegung und jeder einzelne Zug, ja der ganze
sprachliche Ausdruck, gleichsam bis in die Fingerspitzen hinein, beseelt ist und
doch das Phantasiebild plastisch vor unsern Geist stellt. Mörike hat, wie
kaum ein zweiter, auch die Nacht mit echt dichterischer Phantasie aufgefaßt und
beseelt in den herrlichen Zeilen:

Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Wage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet's nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flüchtgen Stunden gleich geschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlnfc noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.

Das sind Urlande eines Dichtergemüts, das noch die personbildende
Kraft der Phantasie hat, die einstmals in grauer Vorzeit die Mythen schuf,
und zugleich das überquellende Gefühl, das die ganze Natur in seinen Strom


T>as Dichtergemüt

So heißt es in „Alexis und Dom": „Wenn die Sorge sich kalt, gräßlich
gelassen mir naht." Bei Heine: „An meinem Bett in der Mitternacht als
Wärterin die Sorge wacht."

Storm singt von dem Geier Schmerz, Goethe nennt die Hoffnung die
Schwester der Phantasie, die Treiberin und Trösterin, andre preisen die Frau
Sehnsucht mit den großen verträumten Augen oder die Liebe, die mit glühenden
Blicken dich anschaut, das Glück, das auf leisen Zehen geschlichen kommt, die
Zeit als einen wundertütigen Engel, als allgebietenden Herrscher oder als eine
greise Vagantin, deren Fuß gleichgiltig niedertritt, was untergehn muß, und
Heine dichtet: „Die Stunden sind aber ein faules Volk! Schleppen sich be¬
haglich träge, schleichen gähnend ihre Wege; tummle dich, du faules Volk."
Der Morgen grüßt mit Herrscherblick der Berge Häupter oder lächelt froh der
Nacht ins Angesicht, sodaß die matte Finsternis flieht, wankend wie betrunken;
die tauige Morgenfrühe verjagt mit warmem Hauch, mit blumenheitern Wangen,
scherzend all den Wolkendunst. Wie wundervoll beseelt Mörike den Tag in
den Zeilen:

Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn;
Die Purpurlippe, die geschlossen lag,
Hauche, halbgeöffnet, süße Atemzüge:
Auf einmal blitzt das Aug', und, wie ein Gott, der Tag
Beginnt im Sprung die königlichen Flüge!

Warum ist hier alles poetisch? Weil alles Anschauung und Empfindung
zugleich, weil alles Leben und Bewegung und jeder einzelne Zug, ja der ganze
sprachliche Ausdruck, gleichsam bis in die Fingerspitzen hinein, beseelt ist und
doch das Phantasiebild plastisch vor unsern Geist stellt. Mörike hat, wie
kaum ein zweiter, auch die Nacht mit echt dichterischer Phantasie aufgefaßt und
beseelt in den herrlichen Zeilen:

Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Wage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet's nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flüchtgen Stunden gleich geschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlnfc noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.

Das sind Urlande eines Dichtergemüts, das noch die personbildende
Kraft der Phantasie hat, die einstmals in grauer Vorzeit die Mythen schuf,
und zugleich das überquellende Gefühl, das die ganze Natur in seinen Strom


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[0386] T>as Dichtergemüt So heißt es in „Alexis und Dom": „Wenn die Sorge sich kalt, gräßlich gelassen mir naht." Bei Heine: „An meinem Bett in der Mitternacht als Wärterin die Sorge wacht." Storm singt von dem Geier Schmerz, Goethe nennt die Hoffnung die Schwester der Phantasie, die Treiberin und Trösterin, andre preisen die Frau Sehnsucht mit den großen verträumten Augen oder die Liebe, die mit glühenden Blicken dich anschaut, das Glück, das auf leisen Zehen geschlichen kommt, die Zeit als einen wundertütigen Engel, als allgebietenden Herrscher oder als eine greise Vagantin, deren Fuß gleichgiltig niedertritt, was untergehn muß, und Heine dichtet: „Die Stunden sind aber ein faules Volk! Schleppen sich be¬ haglich träge, schleichen gähnend ihre Wege; tummle dich, du faules Volk." Der Morgen grüßt mit Herrscherblick der Berge Häupter oder lächelt froh der Nacht ins Angesicht, sodaß die matte Finsternis flieht, wankend wie betrunken; die tauige Morgenfrühe verjagt mit warmem Hauch, mit blumenheitern Wangen, scherzend all den Wolkendunst. Wie wundervoll beseelt Mörike den Tag in den Zeilen: Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn; Die Purpurlippe, die geschlossen lag, Hauche, halbgeöffnet, süße Atemzüge: Auf einmal blitzt das Aug', und, wie ein Gott, der Tag Beginnt im Sprung die königlichen Flüge! Warum ist hier alles poetisch? Weil alles Anschauung und Empfindung zugleich, weil alles Leben und Bewegung und jeder einzelne Zug, ja der ganze sprachliche Ausdruck, gleichsam bis in die Fingerspitzen hinein, beseelt ist und doch das Phantasiebild plastisch vor unsern Geist stellt. Mörike hat, wie kaum ein zweiter, auch die Nacht mit echt dichterischer Phantasie aufgefaßt und beseelt in den herrlichen Zeilen: Gelassen stieg die Nacht ans Land, Lehnt träumend an der Berge Wand, Ihr Auge sieht die goldne Wage nun Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn; Und kecker rauschen die Quellen hervor, Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr Vom Tage, Vom heute gewesenen Tage. Das uralt alte Schlummerlied, Sie achtet's nicht, sie ist es müd; Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch, Der flüchtgen Stunden gleich geschwungnes Joch. Doch immer behalten die Quellen das Wort, Es singen die Wasser im Schlnfc noch fort Vom Tage, Vom heute gewesenen Tage. Das sind Urlande eines Dichtergemüts, das noch die personbildende Kraft der Phantasie hat, die einstmals in grauer Vorzeit die Mythen schuf, und zugleich das überquellende Gefühl, das die ganze Natur in seinen Strom

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_298274/386>, abgerufen am 19.05.2024.