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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Frankreich nach den Wahlen

i jemand hat so viel zur Verbreitung des Glaubens vom Nieder¬
gange Frankreichs beigetragen wie die französischen Politiker und
Schriftsteller. Der Boulevardplauderer in den Blättern findet die
Überreife, ja Fäulnis des Pariser Lebens äußerst interessant und
! sieht in ihr den Beweis, daß die Franzosen noch immer voran
marschieren, wenn es auch auf dem Wege in den Sumpf ist. Die Politiker
ihrerseits versichern uns, je nach ihrer Parteifarbe, fortwährend, daß ihr Vater¬
land rettungslos dem Untergange geweiht sei, oder aber, daß es im Gegenteil
jetzt erst Aussicht habe, sich aus Schmach und Knechtschaft emporzuarbeiten.
Richtig ist, daß die dritte Republik nicht mehr die Weltmachtstellung innehat,
die Frankreich zu der Zeit Ludwigs des Vierzehnten und des ersten Kaiserreichs
behauptete, richtig ist auch, daß die Demokratie den äußern Glanz eingebüßt
hat, den Napoleon der Dritte dem Lande verschaffte. Wir glauben auch, daß
die Zeiten, wo Europa von Versailles oder Fontainebleau aus regiert wurde,
nie wiederkommen werden. Wir glauben aber trotzdem nicht, daß Frankreich
sowohl in seiner äußern wie in seiner innern Politik jemals eine Größe zweiten
Ranges werden wird, deren Schicksale für die übrige Welt nur von geringer
Bedeutung sind. Wir sind der Überzeugung, daß die französische Nation immer
eine der Führerinnen auf der Bahn alles geistigen Fortschritts und in allem
künstlerischen Schaffen bleiben wird. Wir haben am 2. Dezember des Tages
von Austerlitz gedacht, wir werden uns im Oktober erinnern, daß Napoleon
vor hundert Jahren in Berlin eingezogen ist. Sehnt sich das französische Volk
wirklich nach einer Wiederkehr jener blutigen Herrlichkeit, wo Tausende und
Hunderttausende von Landeskindern der Herrschsucht eines stammesfremden
Thrannen geopfert wurden? Sehnt es sich nach den Tagen, da in den Vour-
bonenschlössern nach Milliarden verpraßt wurde, was ein fleißiges Volk mühsam
erspart hatte? Sehnt es sich nach den Krimabenteuern und dem Mexikofeld¬
zuge? Jener falsche Ruhm führte zu der Schmach von Roßbach, führte nach
Moskau und Waterloo, führte nach Sedan und zu den Kommunegreueln. Man
mag von der dritten Republik denken, was man will, aber man kann ihr nicht ein
ähnliches Sündenregister vorhalten wie dem französischen König- und Kaisertum.


Grenzboten II 1906 58


Frankreich nach den Wahlen

i jemand hat so viel zur Verbreitung des Glaubens vom Nieder¬
gange Frankreichs beigetragen wie die französischen Politiker und
Schriftsteller. Der Boulevardplauderer in den Blättern findet die
Überreife, ja Fäulnis des Pariser Lebens äußerst interessant und
! sieht in ihr den Beweis, daß die Franzosen noch immer voran
marschieren, wenn es auch auf dem Wege in den Sumpf ist. Die Politiker
ihrerseits versichern uns, je nach ihrer Parteifarbe, fortwährend, daß ihr Vater¬
land rettungslos dem Untergange geweiht sei, oder aber, daß es im Gegenteil
jetzt erst Aussicht habe, sich aus Schmach und Knechtschaft emporzuarbeiten.
Richtig ist, daß die dritte Republik nicht mehr die Weltmachtstellung innehat,
die Frankreich zu der Zeit Ludwigs des Vierzehnten und des ersten Kaiserreichs
behauptete, richtig ist auch, daß die Demokratie den äußern Glanz eingebüßt
hat, den Napoleon der Dritte dem Lande verschaffte. Wir glauben auch, daß
die Zeiten, wo Europa von Versailles oder Fontainebleau aus regiert wurde,
nie wiederkommen werden. Wir glauben aber trotzdem nicht, daß Frankreich
sowohl in seiner äußern wie in seiner innern Politik jemals eine Größe zweiten
Ranges werden wird, deren Schicksale für die übrige Welt nur von geringer
Bedeutung sind. Wir sind der Überzeugung, daß die französische Nation immer
eine der Führerinnen auf der Bahn alles geistigen Fortschritts und in allem
künstlerischen Schaffen bleiben wird. Wir haben am 2. Dezember des Tages
von Austerlitz gedacht, wir werden uns im Oktober erinnern, daß Napoleon
vor hundert Jahren in Berlin eingezogen ist. Sehnt sich das französische Volk
wirklich nach einer Wiederkehr jener blutigen Herrlichkeit, wo Tausende und
Hunderttausende von Landeskindern der Herrschsucht eines stammesfremden
Thrannen geopfert wurden? Sehnt es sich nach den Tagen, da in den Vour-
bonenschlössern nach Milliarden verpraßt wurde, was ein fleißiges Volk mühsam
erspart hatte? Sehnt es sich nach den Krimabenteuern und dem Mexikofeld¬
zuge? Jener falsche Ruhm führte zu der Schmach von Roßbach, führte nach
Moskau und Waterloo, führte nach Sedan und zu den Kommunegreueln. Man
mag von der dritten Republik denken, was man will, aber man kann ihr nicht ein
ähnliches Sündenregister vorhalten wie dem französischen König- und Kaisertum.


Grenzboten II 1906 58
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[0461] [Abbildung] Frankreich nach den Wahlen i jemand hat so viel zur Verbreitung des Glaubens vom Nieder¬ gange Frankreichs beigetragen wie die französischen Politiker und Schriftsteller. Der Boulevardplauderer in den Blättern findet die Überreife, ja Fäulnis des Pariser Lebens äußerst interessant und ! sieht in ihr den Beweis, daß die Franzosen noch immer voran marschieren, wenn es auch auf dem Wege in den Sumpf ist. Die Politiker ihrerseits versichern uns, je nach ihrer Parteifarbe, fortwährend, daß ihr Vater¬ land rettungslos dem Untergange geweiht sei, oder aber, daß es im Gegenteil jetzt erst Aussicht habe, sich aus Schmach und Knechtschaft emporzuarbeiten. Richtig ist, daß die dritte Republik nicht mehr die Weltmachtstellung innehat, die Frankreich zu der Zeit Ludwigs des Vierzehnten und des ersten Kaiserreichs behauptete, richtig ist auch, daß die Demokratie den äußern Glanz eingebüßt hat, den Napoleon der Dritte dem Lande verschaffte. Wir glauben auch, daß die Zeiten, wo Europa von Versailles oder Fontainebleau aus regiert wurde, nie wiederkommen werden. Wir glauben aber trotzdem nicht, daß Frankreich sowohl in seiner äußern wie in seiner innern Politik jemals eine Größe zweiten Ranges werden wird, deren Schicksale für die übrige Welt nur von geringer Bedeutung sind. Wir sind der Überzeugung, daß die französische Nation immer eine der Führerinnen auf der Bahn alles geistigen Fortschritts und in allem künstlerischen Schaffen bleiben wird. Wir haben am 2. Dezember des Tages von Austerlitz gedacht, wir werden uns im Oktober erinnern, daß Napoleon vor hundert Jahren in Berlin eingezogen ist. Sehnt sich das französische Volk wirklich nach einer Wiederkehr jener blutigen Herrlichkeit, wo Tausende und Hunderttausende von Landeskindern der Herrschsucht eines stammesfremden Thrannen geopfert wurden? Sehnt es sich nach den Tagen, da in den Vour- bonenschlössern nach Milliarden verpraßt wurde, was ein fleißiges Volk mühsam erspart hatte? Sehnt es sich nach den Krimabenteuern und dem Mexikofeld¬ zuge? Jener falsche Ruhm führte zu der Schmach von Roßbach, führte nach Moskau und Waterloo, führte nach Sedan und zu den Kommunegreueln. Man mag von der dritten Republik denken, was man will, aber man kann ihr nicht ein ähnliches Sündenregister vorhalten wie dem französischen König- und Kaisertum. Grenzboten II 1906 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/461>, abgerufen am 04.05.2024.