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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

or etwa einem Jahrzehnt erschien in London ein Buch, worin
für das Ende des Jahrhunderts der Zusammenbruch des Parla¬
mentarismus angekündigt wurde. Diese Weissagung ist nicht
in Erfüllung gegangen, doch war sie keineswegs ohne sachliche
Begründung, sie stützte sich auf die offenkundige Tatsache, daß
fast in allen festländischen Staaten die parlamentarische Regierungsform, die
den Schwärmern aus der Zeit des Sturms und Drangs als das Idol
der Zukunft erschienen war, herbe Enttäuschungen gebracht und tiefe Er¬
schütterungen des staatlichen Baues verursacht hatte. Und zwar gilt dies von
beiden parlamentarischen Formen, dem reinen Parlamentarismus wie dem
Konstitutionalismus. Noch bildet England mit dem festgewurzelten konsti¬
tutionellen Sinne seiner Bevölkerung und dem kräftigen Niederschlag aus einer
jahrhundertealten Tradition bis heute eine vereinzelte Ausnahme, in den
übrigen Staaten hat sich aber der Parlamentarismus entweder noch nicht ein¬
zuleben vermocht, oder er hat sich beinahe schon wieder ausgelebt. Parlaments¬
reform ist darum auch schon seit Jahren hie und da ein oft gehörtes Schlag¬
wort. Es läßt sich freilich leicht sagen, daß der Parlamentarismus uicht der
Politischen Weisheit letzter Schluß ist. aber wer ihn beseitigen wollte, müßte
auch angeben, was an seine Stelle zu setzen wäre. Auch der konservativste
Politiker denkt heute nicht mehr an eine Wiedereinführung des Absolutismus.
In vielen Ländern versteht man unter Parlamentsreform nur eine Wahlrechts¬
reform im Sinne der allgemeinen Stimmabgabe, was jedoch das Übel nur
vergrößern würde. Deutschland hat nun doch seit nahezu vier Jahrzehnten
das allgemeine Wahlrecht, steht außerdem in der allgemeinen Bildung seiner
Bevölkerung allen Ländern mindestens gleich, wenn nicht voran; es wird aber
niemand behaupten wollen, und es hat auch noch niemand behauptet, daß die
allgemeine Wahlberechtigung des deutschen Volkes, die noch dazu in keinem
Staate ungehinderter ausgeübt werden kann, den deutschen Reichstag zu einem


Grenzboten IV 1906 ^


Vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

or etwa einem Jahrzehnt erschien in London ein Buch, worin
für das Ende des Jahrhunderts der Zusammenbruch des Parla¬
mentarismus angekündigt wurde. Diese Weissagung ist nicht
in Erfüllung gegangen, doch war sie keineswegs ohne sachliche
Begründung, sie stützte sich auf die offenkundige Tatsache, daß
fast in allen festländischen Staaten die parlamentarische Regierungsform, die
den Schwärmern aus der Zeit des Sturms und Drangs als das Idol
der Zukunft erschienen war, herbe Enttäuschungen gebracht und tiefe Er¬
schütterungen des staatlichen Baues verursacht hatte. Und zwar gilt dies von
beiden parlamentarischen Formen, dem reinen Parlamentarismus wie dem
Konstitutionalismus. Noch bildet England mit dem festgewurzelten konsti¬
tutionellen Sinne seiner Bevölkerung und dem kräftigen Niederschlag aus einer
jahrhundertealten Tradition bis heute eine vereinzelte Ausnahme, in den
übrigen Staaten hat sich aber der Parlamentarismus entweder noch nicht ein¬
zuleben vermocht, oder er hat sich beinahe schon wieder ausgelebt. Parlaments¬
reform ist darum auch schon seit Jahren hie und da ein oft gehörtes Schlag¬
wort. Es läßt sich freilich leicht sagen, daß der Parlamentarismus uicht der
Politischen Weisheit letzter Schluß ist. aber wer ihn beseitigen wollte, müßte
auch angeben, was an seine Stelle zu setzen wäre. Auch der konservativste
Politiker denkt heute nicht mehr an eine Wiedereinführung des Absolutismus.
In vielen Ländern versteht man unter Parlamentsreform nur eine Wahlrechts¬
reform im Sinne der allgemeinen Stimmabgabe, was jedoch das Übel nur
vergrößern würde. Deutschland hat nun doch seit nahezu vier Jahrzehnten
das allgemeine Wahlrecht, steht außerdem in der allgemeinen Bildung seiner
Bevölkerung allen Ländern mindestens gleich, wenn nicht voran; es wird aber
niemand behaupten wollen, und es hat auch noch niemand behauptet, daß die
allgemeine Wahlberechtigung des deutschen Volkes, die noch dazu in keinem
Staate ungehinderter ausgeübt werden kann, den deutschen Reichstag zu einem


Grenzboten IV 1906 ^
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[0241] [Abbildung] Vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus or etwa einem Jahrzehnt erschien in London ein Buch, worin für das Ende des Jahrhunderts der Zusammenbruch des Parla¬ mentarismus angekündigt wurde. Diese Weissagung ist nicht in Erfüllung gegangen, doch war sie keineswegs ohne sachliche Begründung, sie stützte sich auf die offenkundige Tatsache, daß fast in allen festländischen Staaten die parlamentarische Regierungsform, die den Schwärmern aus der Zeit des Sturms und Drangs als das Idol der Zukunft erschienen war, herbe Enttäuschungen gebracht und tiefe Er¬ schütterungen des staatlichen Baues verursacht hatte. Und zwar gilt dies von beiden parlamentarischen Formen, dem reinen Parlamentarismus wie dem Konstitutionalismus. Noch bildet England mit dem festgewurzelten konsti¬ tutionellen Sinne seiner Bevölkerung und dem kräftigen Niederschlag aus einer jahrhundertealten Tradition bis heute eine vereinzelte Ausnahme, in den übrigen Staaten hat sich aber der Parlamentarismus entweder noch nicht ein¬ zuleben vermocht, oder er hat sich beinahe schon wieder ausgelebt. Parlaments¬ reform ist darum auch schon seit Jahren hie und da ein oft gehörtes Schlag¬ wort. Es läßt sich freilich leicht sagen, daß der Parlamentarismus uicht der Politischen Weisheit letzter Schluß ist. aber wer ihn beseitigen wollte, müßte auch angeben, was an seine Stelle zu setzen wäre. Auch der konservativste Politiker denkt heute nicht mehr an eine Wiedereinführung des Absolutismus. In vielen Ländern versteht man unter Parlamentsreform nur eine Wahlrechts¬ reform im Sinne der allgemeinen Stimmabgabe, was jedoch das Übel nur vergrößern würde. Deutschland hat nun doch seit nahezu vier Jahrzehnten das allgemeine Wahlrecht, steht außerdem in der allgemeinen Bildung seiner Bevölkerung allen Ländern mindestens gleich, wenn nicht voran; es wird aber niemand behaupten wollen, und es hat auch noch niemand behauptet, daß die allgemeine Wahlberechtigung des deutschen Volkes, die noch dazu in keinem Staate ungehinderter ausgeübt werden kann, den deutschen Reichstag zu einem Grenzboten IV 1906 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/241>, abgerufen am 29.04.2024.