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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

Musterparlament gemacht habe. Es glaubt auch kein ernsthafter Politiker,
daß die in Deutschland noch allein mögliche Ausdehnung des Wahlrechts auf
Frauen und aktive Militärs eine Beseitigung der parlamentarischen Mängel
zur Folge haben werde. In der Richtung der Erweiterung der Wahlberechtigung
ist demnach bei uns, und damit unzweifelhaft auch anderswo, die Parlaments¬
reform nicht zu suchen. Auch der nicht in Abrede zu stellende Umstand, daß
in Deutschland infolge seiner jahrhundertelangen politischen Zerrissenheit das
Nationalgefühl, das sich auch in Nationalitäten, die in der Kultur sehr
tief stehn, als gesunder nationaler Instinkt zeigt, noch wenig entwickelt ist,
kann nicht zur Entlastung angeführt werden, denn gerade das mit dem parla¬
mentarischen Leben verknüpfte öffentliche Treiben -- wie sich das in neuerer
Zeit sogar auch schon in England zeigt -- ist nicht geeignet, Gefühle der
Gemeinsamkeit zu fördern, sondern führt eher zur weitern Zersplitterung.

Durch Heranziehung von minder geschulten und gebildeten Volksschichten
zur parlamentarischen Wirksamkeit ist der Ton der Volksvertretungen und der
politischen Versammlungen überall herabgestimmt worden, denn untere Volks¬
kreise sind leicht für die radikale Richtung einzunehmen, und der Radikalismus
mit seinem Ungestüm und seiner Rücksichtslosigkeit bringt an sich schon eine
gewisse Ungeniertheit der Ausdrucksweise mit sich. Österreich-Ungarn, Italien
und Frankreich bieten merkwürdige Belege dafür, und diese Erscheinungen am
Parlamentarismus stehn der furchtbaren Theorie nicht entgegen, daß bei den
Völkern aller Überschuß an Kraft, der nicht im Blute eines Krieges erstickt
wird, in den abgeschmacktesten Tollheiten verpufft. In Deutschland hat sich
der Verfall des parlamentarischen Lebens erst nach und nach herausgebildet,
soweit dies den Reichstag betrifft. Dagegen hatte der preußische Landtag
während der Konfliktszeit in Rücksichtslosigkeit und Parteiterrorismus schon
einen Tiefstand erreicht, wie er in einer durch Klassenwahl berufnen Körper¬
schaft bisher wohl kaum vorgekommen war. Wie eine wohltuende Überraschung
wirkte darauf der vornehme, sachliche Ton, der die Verhandlungen des nord¬
deutschen Reichstags und die der ersten Jahre des deutschen Reichstags durch¬
wehte. Viele wollten darin in der üblichen Verwechslung des post Koo mit
dem xrovter nov sofort die Wirkung des allgemeinen Wahlrechts erkennen, die
Gegenwart weiß aber, daß uns seine unvermeidlichen Einflüsse auf Ton und
Tätigkeit des Reichstags nicht erspart geblieben sind, und daß die erwähnte
vornehme Periode des deutschen Reichstags von keinem Wahlrecht abgehangen
hat, sondern die Folge einer großen Zeit, gewaltiger geschichtlicher Taten ge¬
wesen ist, die auch das sonst Kleinliche hoben und veredelten. Denn die Be¬
schäftigung mit der täglichen Partei- und Agitationspolitik ist es, die, nach
Bismarck, "den Charakter verdirbt", die wirkliche große vaterländische Politik
tut dies nicht, aber sie leidet unter der andern.

Darum geht, was den politischen Wert und den Bestand des Parlaments
betrifft, ein pessimistischer Zug durch die Gegenwart, die die bedenkliche Ent-


vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

Musterparlament gemacht habe. Es glaubt auch kein ernsthafter Politiker,
daß die in Deutschland noch allein mögliche Ausdehnung des Wahlrechts auf
Frauen und aktive Militärs eine Beseitigung der parlamentarischen Mängel
zur Folge haben werde. In der Richtung der Erweiterung der Wahlberechtigung
ist demnach bei uns, und damit unzweifelhaft auch anderswo, die Parlaments¬
reform nicht zu suchen. Auch der nicht in Abrede zu stellende Umstand, daß
in Deutschland infolge seiner jahrhundertelangen politischen Zerrissenheit das
Nationalgefühl, das sich auch in Nationalitäten, die in der Kultur sehr
tief stehn, als gesunder nationaler Instinkt zeigt, noch wenig entwickelt ist,
kann nicht zur Entlastung angeführt werden, denn gerade das mit dem parla¬
mentarischen Leben verknüpfte öffentliche Treiben — wie sich das in neuerer
Zeit sogar auch schon in England zeigt — ist nicht geeignet, Gefühle der
Gemeinsamkeit zu fördern, sondern führt eher zur weitern Zersplitterung.

Durch Heranziehung von minder geschulten und gebildeten Volksschichten
zur parlamentarischen Wirksamkeit ist der Ton der Volksvertretungen und der
politischen Versammlungen überall herabgestimmt worden, denn untere Volks¬
kreise sind leicht für die radikale Richtung einzunehmen, und der Radikalismus
mit seinem Ungestüm und seiner Rücksichtslosigkeit bringt an sich schon eine
gewisse Ungeniertheit der Ausdrucksweise mit sich. Österreich-Ungarn, Italien
und Frankreich bieten merkwürdige Belege dafür, und diese Erscheinungen am
Parlamentarismus stehn der furchtbaren Theorie nicht entgegen, daß bei den
Völkern aller Überschuß an Kraft, der nicht im Blute eines Krieges erstickt
wird, in den abgeschmacktesten Tollheiten verpufft. In Deutschland hat sich
der Verfall des parlamentarischen Lebens erst nach und nach herausgebildet,
soweit dies den Reichstag betrifft. Dagegen hatte der preußische Landtag
während der Konfliktszeit in Rücksichtslosigkeit und Parteiterrorismus schon
einen Tiefstand erreicht, wie er in einer durch Klassenwahl berufnen Körper¬
schaft bisher wohl kaum vorgekommen war. Wie eine wohltuende Überraschung
wirkte darauf der vornehme, sachliche Ton, der die Verhandlungen des nord¬
deutschen Reichstags und die der ersten Jahre des deutschen Reichstags durch¬
wehte. Viele wollten darin in der üblichen Verwechslung des post Koo mit
dem xrovter nov sofort die Wirkung des allgemeinen Wahlrechts erkennen, die
Gegenwart weiß aber, daß uns seine unvermeidlichen Einflüsse auf Ton und
Tätigkeit des Reichstags nicht erspart geblieben sind, und daß die erwähnte
vornehme Periode des deutschen Reichstags von keinem Wahlrecht abgehangen
hat, sondern die Folge einer großen Zeit, gewaltiger geschichtlicher Taten ge¬
wesen ist, die auch das sonst Kleinliche hoben und veredelten. Denn die Be¬
schäftigung mit der täglichen Partei- und Agitationspolitik ist es, die, nach
Bismarck, „den Charakter verdirbt", die wirkliche große vaterländische Politik
tut dies nicht, aber sie leidet unter der andern.

Darum geht, was den politischen Wert und den Bestand des Parlaments
betrifft, ein pessimistischer Zug durch die Gegenwart, die die bedenkliche Ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/242>, abgerufen am 16.05.2024.