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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Die Schule der Welt

deutsche Wesen kaum irgendwo zum Ausdruck, es sei denn in Belgrad, das
ganz den Eindruck einer deutschen Stadt macht. Im übrigen herrscht, wenn
man das moderne Leben und die äußere Physiognomie ins Auge faßt, ein
französisch-italienischer Zug, wenn man das volkstümliche Treiben betrachtet,
eine aus urwüchsigen Bauerntum und orientalischer Lässigkeit gemischte Balkan¬
art vor. Das Verhältnis dieser beiden Bestandteile aber beginnt sich immer
mehr umzukehren: wie sich das Reflexbild eines Nebelbilderapparats leise
wandelt, indem die Umrisse des einen Bildes verschwimmen, und die des andern
daraus emportauchen, so erscheint dem häufigern Besucher das äußere Bild der
Balkanstädte wie ein solches Wandelbild; die Formen und die Farben des
Orients verschwimmen und verschwinden mehr und mehr, und die Umrisse eines
modern europäischen Städtebildes treten immer deutlicher daraus hervor; die
Metamorphose ist noch lange nicht abgeschlossen und steht nicht überall in
demselben Stadium, wenn man aber bedenkt, in welchem Zustande diese
Städte noch vor zwanzig Jahren waren, muß man staunen, wie schnell ihre
Europäisierung seitdem vorgeschritten ist.




Die schule der Welt
Ein preußisches Lustspiel Friedrichs des Großen
Georg peiser von

^ M^WH^ er zweite Akt spielt in der Wohnung Argaus. Julie ist voll Ver¬
zweiflung über die Aussicht, Mondor, dem ihr ganzes Herz ge¬
hört, entsagen zu müssen. Aber sie wagt trotz Nerinens Zureden
keinen Widerstand gegen ihren Vater, den sie zärtlich liebt, und
noch weniger gegen ihre Mutter, die das Regiment im Hause
! führt. Ihr Gespräch wird durch das Eintreten der Madame Argau
unterbrochen. Sie sinkt sofort in einen Sessel und klagt über heftige Migräne.
Die verwünschte Schildwache an der Ecke mit ihrem ewigen Wer da-Rufen
werde sie noch ganz unter die Erde bringen. Nerine lenkt das Gespräch auf
die beabsichtigte Verlobung. Und während Julie stumm zuhört und nur von
Zeit zu Zeit einen Verweis wegen ihrer schlechten Haltung bekommt, setzt die
Mutter auseinander, weshalb ihr die Verbindung mit dem Sohne ihres Nach¬
bars so sehr zusage. "Bardus ist so grundgelehrt" -- was tut es, daß er sich,
wie Nerine einwirft, mit seiner Pedanterie in der ganzen Stadt lächerlich macht
und sogar der Zofe auf der Treppe philosophische Vortrüge hält, oder daß er
sich, wie böse Zungen behaupten, seine Bücher von seinem Freunde, "dem dicken
Professor", schreiben läßt. "Man kann doch nicht alles allein machen, erwidert
Madame Argau. Die Hauptsache ist: Bardus hat viel Geld, und Vilvesee ist
sein einziger Sohn. Als man mir den Vorschlag machte, meinen jetzigen Mann
zu heiraten, meint Madame Argau, habe ich auch zuerst gefragt: wieviel Ein-


Die Schule der Welt

deutsche Wesen kaum irgendwo zum Ausdruck, es sei denn in Belgrad, das
ganz den Eindruck einer deutschen Stadt macht. Im übrigen herrscht, wenn
man das moderne Leben und die äußere Physiognomie ins Auge faßt, ein
französisch-italienischer Zug, wenn man das volkstümliche Treiben betrachtet,
eine aus urwüchsigen Bauerntum und orientalischer Lässigkeit gemischte Balkan¬
art vor. Das Verhältnis dieser beiden Bestandteile aber beginnt sich immer
mehr umzukehren: wie sich das Reflexbild eines Nebelbilderapparats leise
wandelt, indem die Umrisse des einen Bildes verschwimmen, und die des andern
daraus emportauchen, so erscheint dem häufigern Besucher das äußere Bild der
Balkanstädte wie ein solches Wandelbild; die Formen und die Farben des
Orients verschwimmen und verschwinden mehr und mehr, und die Umrisse eines
modern europäischen Städtebildes treten immer deutlicher daraus hervor; die
Metamorphose ist noch lange nicht abgeschlossen und steht nicht überall in
demselben Stadium, wenn man aber bedenkt, in welchem Zustande diese
Städte noch vor zwanzig Jahren waren, muß man staunen, wie schnell ihre
Europäisierung seitdem vorgeschritten ist.




Die schule der Welt
Ein preußisches Lustspiel Friedrichs des Großen
Georg peiser von

^ M^WH^ er zweite Akt spielt in der Wohnung Argaus. Julie ist voll Ver¬
zweiflung über die Aussicht, Mondor, dem ihr ganzes Herz ge¬
hört, entsagen zu müssen. Aber sie wagt trotz Nerinens Zureden
keinen Widerstand gegen ihren Vater, den sie zärtlich liebt, und
noch weniger gegen ihre Mutter, die das Regiment im Hause
! führt. Ihr Gespräch wird durch das Eintreten der Madame Argau
unterbrochen. Sie sinkt sofort in einen Sessel und klagt über heftige Migräne.
Die verwünschte Schildwache an der Ecke mit ihrem ewigen Wer da-Rufen
werde sie noch ganz unter die Erde bringen. Nerine lenkt das Gespräch auf
die beabsichtigte Verlobung. Und während Julie stumm zuhört und nur von
Zeit zu Zeit einen Verweis wegen ihrer schlechten Haltung bekommt, setzt die
Mutter auseinander, weshalb ihr die Verbindung mit dem Sohne ihres Nach¬
bars so sehr zusage. „Bardus ist so grundgelehrt" — was tut es, daß er sich,
wie Nerine einwirft, mit seiner Pedanterie in der ganzen Stadt lächerlich macht
und sogar der Zofe auf der Treppe philosophische Vortrüge hält, oder daß er
sich, wie böse Zungen behaupten, seine Bücher von seinem Freunde, „dem dicken
Professor", schreiben läßt. „Man kann doch nicht alles allein machen, erwidert
Madame Argau. Die Hauptsache ist: Bardus hat viel Geld, und Vilvesee ist
sein einziger Sohn. Als man mir den Vorschlag machte, meinen jetzigen Mann
zu heiraten, meint Madame Argau, habe ich auch zuerst gefragt: wieviel Ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/269>, abgerufen am 29.04.2024.