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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Aufgabe für alle, die sich noch zum Mittelstand und Bürgertum in Deutsch¬
land zählen, als die gemeinsame Abwehr des politischen, gesellschaftlichen und
gewerblichen Drucks, den die Massen der Sozialdemokratie ausüben, und dem
nur durch einen ebenso geschlossenen Widerstand begegnet werden kann. Daß
ein solcher Zusammenschluß überhaupt uur unter der alten Devise der National¬
liberalen: Für Kaiser und Reich! möglich ist, braucht uicht weiter ausgeführt
zu werden. _




Russische Briefe
George Lleinow von

laut der Wahltaktik der konstitutionell-demokratischen Partei fiel
die Zusammensetzung der ersten russischen Volksvertretung so aus,
daß folgenschwere Zusammenstöße mit den Vertretern der Ne¬
gierung von vornherein unvermeidlich erschienen. Daß die Duma
! oppositionell war, ist dabei durchaus nicht als Fehler gedacht. Nach
Lage der Dinge in einem sich neu formierenden Staate muß meines Erachtens
die erste Volksvertretung -- will sie wirklich reformierend wirken -- immer
oppositionell gegen ein aus dem alten Staatsorganismus übernommnes Kabinett
sein. Dabei muß es gleichgiltig sein, ob das Kabinett reaktionär oder fort¬
schrittlich ist. Denn erst aus den fortgesetzten Reibungen zwischen Kabinett und
Parlament können sorgsam durchdachte und durchgearbeitete Gesetze entstehn.
Natürlich muß von beiden Seiten der Ausweg sachlich gesucht werden. In
unserm Falle zählte das Kabinett Vertreter der schärfsten Reaktion wie den
Ackerbciuministcr A. S. Stischinski und Liberale wie den Justizminister
Stscheglowitow zu seinem Bestände. Der Ministerpräsident I. L. Goremykin
war durchaus farblos. Die Hauptaufgabe des ersten russischen Parlaments
bestand demnach nicht in der Beseitigung des Kabinetts, sondern in dessen
Ausnutzung, um die im Manifest vom 17. (30.) Oktober 1905 dem Lande zu¬
gedachten Segnungen ins Leben einzuführen und sicherzustellen. Das Kabinett
Goremykin war anfangs unter dem Drucke der moskowitischen Reaktion geneigt,
sich der Anschauung anzuschließen, als sei durch jenes Manifest mehr gegeben
worden, als einer gesunden Entwicklung des russischen Gesamtstaats zuträglich
wäre. Diese Anschauung fand zuletzt maßgeblichen Ausdruck in dem kurz vor
Zusammentritt der Duma veröffentlichten Staatsgrnndgesetz (dessen Text findet
sich in meinem Buche: "Aus Rußlands Not und Hoffen", S. 290 bis 305).
Während aber die Regierung den Anschein erweckte, als wolle sie nicht recht
an das Manifest herangehn, trieb die Mehrheit in der Duma offenkundig
weit darüber hinaus, ja unter dem Einfluß der Republikaner wurden auch


Russische Briefe

Aufgabe für alle, die sich noch zum Mittelstand und Bürgertum in Deutsch¬
land zählen, als die gemeinsame Abwehr des politischen, gesellschaftlichen und
gewerblichen Drucks, den die Massen der Sozialdemokratie ausüben, und dem
nur durch einen ebenso geschlossenen Widerstand begegnet werden kann. Daß
ein solcher Zusammenschluß überhaupt uur unter der alten Devise der National¬
liberalen: Für Kaiser und Reich! möglich ist, braucht uicht weiter ausgeführt
zu werden. _




Russische Briefe
George Lleinow von

laut der Wahltaktik der konstitutionell-demokratischen Partei fiel
die Zusammensetzung der ersten russischen Volksvertretung so aus,
daß folgenschwere Zusammenstöße mit den Vertretern der Ne¬
gierung von vornherein unvermeidlich erschienen. Daß die Duma
! oppositionell war, ist dabei durchaus nicht als Fehler gedacht. Nach
Lage der Dinge in einem sich neu formierenden Staate muß meines Erachtens
die erste Volksvertretung — will sie wirklich reformierend wirken — immer
oppositionell gegen ein aus dem alten Staatsorganismus übernommnes Kabinett
sein. Dabei muß es gleichgiltig sein, ob das Kabinett reaktionär oder fort¬
schrittlich ist. Denn erst aus den fortgesetzten Reibungen zwischen Kabinett und
Parlament können sorgsam durchdachte und durchgearbeitete Gesetze entstehn.
Natürlich muß von beiden Seiten der Ausweg sachlich gesucht werden. In
unserm Falle zählte das Kabinett Vertreter der schärfsten Reaktion wie den
Ackerbciuministcr A. S. Stischinski und Liberale wie den Justizminister
Stscheglowitow zu seinem Bestände. Der Ministerpräsident I. L. Goremykin
war durchaus farblos. Die Hauptaufgabe des ersten russischen Parlaments
bestand demnach nicht in der Beseitigung des Kabinetts, sondern in dessen
Ausnutzung, um die im Manifest vom 17. (30.) Oktober 1905 dem Lande zu¬
gedachten Segnungen ins Leben einzuführen und sicherzustellen. Das Kabinett
Goremykin war anfangs unter dem Drucke der moskowitischen Reaktion geneigt,
sich der Anschauung anzuschließen, als sei durch jenes Manifest mehr gegeben
worden, als einer gesunden Entwicklung des russischen Gesamtstaats zuträglich
wäre. Diese Anschauung fand zuletzt maßgeblichen Ausdruck in dem kurz vor
Zusammentritt der Duma veröffentlichten Staatsgrnndgesetz (dessen Text findet
sich in meinem Buche: „Aus Rußlands Not und Hoffen", S. 290 bis 305).
Während aber die Regierung den Anschein erweckte, als wolle sie nicht recht
an das Manifest herangehn, trieb die Mehrheit in der Duma offenkundig
weit darüber hinaus, ja unter dem Einfluß der Republikaner wurden auch


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[0350] Russische Briefe Aufgabe für alle, die sich noch zum Mittelstand und Bürgertum in Deutsch¬ land zählen, als die gemeinsame Abwehr des politischen, gesellschaftlichen und gewerblichen Drucks, den die Massen der Sozialdemokratie ausüben, und dem nur durch einen ebenso geschlossenen Widerstand begegnet werden kann. Daß ein solcher Zusammenschluß überhaupt uur unter der alten Devise der National¬ liberalen: Für Kaiser und Reich! möglich ist, braucht uicht weiter ausgeführt zu werden. _ Russische Briefe George Lleinow von laut der Wahltaktik der konstitutionell-demokratischen Partei fiel die Zusammensetzung der ersten russischen Volksvertretung so aus, daß folgenschwere Zusammenstöße mit den Vertretern der Ne¬ gierung von vornherein unvermeidlich erschienen. Daß die Duma ! oppositionell war, ist dabei durchaus nicht als Fehler gedacht. Nach Lage der Dinge in einem sich neu formierenden Staate muß meines Erachtens die erste Volksvertretung — will sie wirklich reformierend wirken — immer oppositionell gegen ein aus dem alten Staatsorganismus übernommnes Kabinett sein. Dabei muß es gleichgiltig sein, ob das Kabinett reaktionär oder fort¬ schrittlich ist. Denn erst aus den fortgesetzten Reibungen zwischen Kabinett und Parlament können sorgsam durchdachte und durchgearbeitete Gesetze entstehn. Natürlich muß von beiden Seiten der Ausweg sachlich gesucht werden. In unserm Falle zählte das Kabinett Vertreter der schärfsten Reaktion wie den Ackerbciuministcr A. S. Stischinski und Liberale wie den Justizminister Stscheglowitow zu seinem Bestände. Der Ministerpräsident I. L. Goremykin war durchaus farblos. Die Hauptaufgabe des ersten russischen Parlaments bestand demnach nicht in der Beseitigung des Kabinetts, sondern in dessen Ausnutzung, um die im Manifest vom 17. (30.) Oktober 1905 dem Lande zu¬ gedachten Segnungen ins Leben einzuführen und sicherzustellen. Das Kabinett Goremykin war anfangs unter dem Drucke der moskowitischen Reaktion geneigt, sich der Anschauung anzuschließen, als sei durch jenes Manifest mehr gegeben worden, als einer gesunden Entwicklung des russischen Gesamtstaats zuträglich wäre. Diese Anschauung fand zuletzt maßgeblichen Ausdruck in dem kurz vor Zusammentritt der Duma veröffentlichten Staatsgrnndgesetz (dessen Text findet sich in meinem Buche: „Aus Rußlands Not und Hoffen", S. 290 bis 305). Während aber die Regierung den Anschein erweckte, als wolle sie nicht recht an das Manifest herangehn, trieb die Mehrheit in der Duma offenkundig weit darüber hinaus, ja unter dem Einfluß der Republikaner wurden auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/350>, abgerufen am 29.04.2024.