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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Ein neuer Erzählet

grausame Kritik demütig hinnahm und mit Bülow in freundschaftlichem Brief¬
wechsel blieb. Die vom 29. Oktober 1872 datierte Antwort auf den obigen
Brief beginnt mit den Sätzen: "Nicht wahr, ich habe mir Zeit gelassen, die
Mahnungen Ihres Schreibens zu beherzigen und Ihnen für dieselben zu
danken? Seien Sie überzeugt, daß ich nie gewagt haben würde, auch nur im
Scherze, Sie um die Durchsicht meiner "Musik" zu ersuchen, wenn ich nur
eine Ahnung von deren absolutem Unwerte gehabt Hütte! Leider hat mich bis
jetzt niemand aus meiner harmlosen Einbildung aufgerüttelt, aus der Ein¬
bildung, eine recht laienhaft groteske, aber für mich höchst natürliche Musik
machen zu können; nun erkenne ich erst, wenn auch von ferne, von Ihrem
Briefe auf mein Notenpapier zurückblickend, welchen Gefahren der Unnatur ich
mich durch dies Gewührenlasfen ausgesetzt habe."




Ein neuer Erzähler

er immer breiter einherflutende Strom unsrer Romanproduktion
bringt dem nachdenklichen Leser und Beurteiler wieder und wieder
die Frage nahe, wo die Grenzen liegen zwischen der Roman¬
dichtung und dem Unterhaltnngsromcm. Wer sich nicht mit der
allerdings klaren Unterscheidung begnügt: alles, was amüsiert,
ist Untcrhaltungsroman, alles Langweilige Romandichtung -- der wird diesem
Probleme lange nachzudenken haben. Und schwerlich wird man mit rein
theoretischen Wägungen zum Ziele kommen, gewiß nicht mit technischen Unter¬
suchungen über den äußern Bau der abzuschätzender Werke. Eher hilft vielleicht
eine empirische Beurteilung vorwärts. Wir finden, daß Goethe zwar -- im
Gegensatz zu Schiller und Hebbel -- "Theaterstücke" schreiben konnte, daß er
aber die Feder zur Erzählung nicht anzusetzen vermochte, ohne daß ihr Dichtung
und immer wieder Dichtung entfloß. Und gleich ihm haben Gottfried Keller,
Konrad Ferdinand Meyer, Theodor Storm, Wilhelm Raabe nie andres schaffen
können als Romandichtungen, Novellen hochpoetischen Stils -- Unterhaltungs¬
erzählungen konnten sie nicht schreiben. Umgekehrt kommt Friedrich Wilhelm
Hackländer auch nach dem ernstesten Ansatz über das Unterhalten nie hinaus,
und er ist da einer der feinsten Typen. Es liegt eben im Naturell, und das
Naturell der Verfasser gibt dann auch den ästhetischen Maßstab. Der Unter¬
haltungsroman bleibt am Ende immer oben. Er kann wie bei Brachvogel
gutes Zeitkolorit, wie bei Jda Boy-Ed fein gezeichnete Gestalten, wie bei
Johannes Richard zur Megede eindringliche Stimmungen, wie bei August
Lewald bunte Bilder geben -- und wird uns doch nicht so nachgehn und nicht
entfernt so vieles offenbaren, wie ein in demselben Kreise spielender, vielleicht


Grenzboten IV 1906 S
Ein neuer Erzählet

grausame Kritik demütig hinnahm und mit Bülow in freundschaftlichem Brief¬
wechsel blieb. Die vom 29. Oktober 1872 datierte Antwort auf den obigen
Brief beginnt mit den Sätzen: „Nicht wahr, ich habe mir Zeit gelassen, die
Mahnungen Ihres Schreibens zu beherzigen und Ihnen für dieselben zu
danken? Seien Sie überzeugt, daß ich nie gewagt haben würde, auch nur im
Scherze, Sie um die Durchsicht meiner »Musik« zu ersuchen, wenn ich nur
eine Ahnung von deren absolutem Unwerte gehabt Hütte! Leider hat mich bis
jetzt niemand aus meiner harmlosen Einbildung aufgerüttelt, aus der Ein¬
bildung, eine recht laienhaft groteske, aber für mich höchst natürliche Musik
machen zu können; nun erkenne ich erst, wenn auch von ferne, von Ihrem
Briefe auf mein Notenpapier zurückblickend, welchen Gefahren der Unnatur ich
mich durch dies Gewührenlasfen ausgesetzt habe."




Ein neuer Erzähler

er immer breiter einherflutende Strom unsrer Romanproduktion
bringt dem nachdenklichen Leser und Beurteiler wieder und wieder
die Frage nahe, wo die Grenzen liegen zwischen der Roman¬
dichtung und dem Unterhaltnngsromcm. Wer sich nicht mit der
allerdings klaren Unterscheidung begnügt: alles, was amüsiert,
ist Untcrhaltungsroman, alles Langweilige Romandichtung — der wird diesem
Probleme lange nachzudenken haben. Und schwerlich wird man mit rein
theoretischen Wägungen zum Ziele kommen, gewiß nicht mit technischen Unter¬
suchungen über den äußern Bau der abzuschätzender Werke. Eher hilft vielleicht
eine empirische Beurteilung vorwärts. Wir finden, daß Goethe zwar — im
Gegensatz zu Schiller und Hebbel — „Theaterstücke" schreiben konnte, daß er
aber die Feder zur Erzählung nicht anzusetzen vermochte, ohne daß ihr Dichtung
und immer wieder Dichtung entfloß. Und gleich ihm haben Gottfried Keller,
Konrad Ferdinand Meyer, Theodor Storm, Wilhelm Raabe nie andres schaffen
können als Romandichtungen, Novellen hochpoetischen Stils — Unterhaltungs¬
erzählungen konnten sie nicht schreiben. Umgekehrt kommt Friedrich Wilhelm
Hackländer auch nach dem ernstesten Ansatz über das Unterhalten nie hinaus,
und er ist da einer der feinsten Typen. Es liegt eben im Naturell, und das
Naturell der Verfasser gibt dann auch den ästhetischen Maßstab. Der Unter¬
haltungsroman bleibt am Ende immer oben. Er kann wie bei Brachvogel
gutes Zeitkolorit, wie bei Jda Boy-Ed fein gezeichnete Gestalten, wie bei
Johannes Richard zur Megede eindringliche Stimmungen, wie bei August
Lewald bunte Bilder geben — und wird uns doch nicht so nachgehn und nicht
entfernt so vieles offenbaren, wie ein in demselben Kreise spielender, vielleicht


Grenzboten IV 1906 S
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[0045] Ein neuer Erzählet grausame Kritik demütig hinnahm und mit Bülow in freundschaftlichem Brief¬ wechsel blieb. Die vom 29. Oktober 1872 datierte Antwort auf den obigen Brief beginnt mit den Sätzen: „Nicht wahr, ich habe mir Zeit gelassen, die Mahnungen Ihres Schreibens zu beherzigen und Ihnen für dieselben zu danken? Seien Sie überzeugt, daß ich nie gewagt haben würde, auch nur im Scherze, Sie um die Durchsicht meiner »Musik« zu ersuchen, wenn ich nur eine Ahnung von deren absolutem Unwerte gehabt Hütte! Leider hat mich bis jetzt niemand aus meiner harmlosen Einbildung aufgerüttelt, aus der Ein¬ bildung, eine recht laienhaft groteske, aber für mich höchst natürliche Musik machen zu können; nun erkenne ich erst, wenn auch von ferne, von Ihrem Briefe auf mein Notenpapier zurückblickend, welchen Gefahren der Unnatur ich mich durch dies Gewührenlasfen ausgesetzt habe." Ein neuer Erzähler er immer breiter einherflutende Strom unsrer Romanproduktion bringt dem nachdenklichen Leser und Beurteiler wieder und wieder die Frage nahe, wo die Grenzen liegen zwischen der Roman¬ dichtung und dem Unterhaltnngsromcm. Wer sich nicht mit der allerdings klaren Unterscheidung begnügt: alles, was amüsiert, ist Untcrhaltungsroman, alles Langweilige Romandichtung — der wird diesem Probleme lange nachzudenken haben. Und schwerlich wird man mit rein theoretischen Wägungen zum Ziele kommen, gewiß nicht mit technischen Unter¬ suchungen über den äußern Bau der abzuschätzender Werke. Eher hilft vielleicht eine empirische Beurteilung vorwärts. Wir finden, daß Goethe zwar — im Gegensatz zu Schiller und Hebbel — „Theaterstücke" schreiben konnte, daß er aber die Feder zur Erzählung nicht anzusetzen vermochte, ohne daß ihr Dichtung und immer wieder Dichtung entfloß. Und gleich ihm haben Gottfried Keller, Konrad Ferdinand Meyer, Theodor Storm, Wilhelm Raabe nie andres schaffen können als Romandichtungen, Novellen hochpoetischen Stils — Unterhaltungs¬ erzählungen konnten sie nicht schreiben. Umgekehrt kommt Friedrich Wilhelm Hackländer auch nach dem ernstesten Ansatz über das Unterhalten nie hinaus, und er ist da einer der feinsten Typen. Es liegt eben im Naturell, und das Naturell der Verfasser gibt dann auch den ästhetischen Maßstab. Der Unter¬ haltungsroman bleibt am Ende immer oben. Er kann wie bei Brachvogel gutes Zeitkolorit, wie bei Jda Boy-Ed fein gezeichnete Gestalten, wie bei Johannes Richard zur Megede eindringliche Stimmungen, wie bei August Lewald bunte Bilder geben — und wird uns doch nicht so nachgehn und nicht entfernt so vieles offenbaren, wie ein in demselben Kreise spielender, vielleicht Grenzboten IV 1906 S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/45>, abgerufen am 29.04.2024.