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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Ein neuer Erzähler

ganz ruhig einhcrschreitender Romain eines ganzen Dichters. Der kann es
technisch an sich fehlen lassen, wie Kellers Grüner Heinrich, kann aussehen wie
aus mehreren Stücken zusammengeflickt, gleich Vischers Auch Einer, oder mag
sich ins Plauderhafte verlieren, wie bei Fontane so oft -- der Nachhall ist
stärker und echter als bei einem noch so abgerundeten Uuterhaltuugsromau. Der
Nachhall! Das ist der beste Hinweis auf den einzigen Richter im ungewissen
Streit. Die Nachwelt entscheidet schließlich, wenn die Mitwelt zweifelte. Man
kann es ruhig aussprechen: was die Menschen -- ich rechne lange -- fünfzig
Jahre nach seinem Erscheinen nicht mehr unterhält, war Unterhaltungsroman;
was sie dann noch fesselt, ist Dichtung. Wo sind die Autoren, die in den
fünfziger und sechziger, ja noch in den achtziger Jahren verschlungen wurden?
Aber Keller und Alexis, Raabe und Meyer blühen und leben heute noch, ob
sie auch außer dem einen, der in diesen Wochen fünfundsiebzig Jahre alt wird,
schon die Gefilde ihrer Erdentage verließen.

Nun weiß ich sehr gut, daß trotz cilledem die Grenzen flüssig sind. Paul
Heyse zum Beispiel hat manches geschrieben, was nur Unterhaltung ist. Aber
bei ihm überwiegt in dem großen Lebenswerke das andre so völlig, daß er
durchaus in jene Dichterreihe gehört. Andre Talente jedoch stehn in der
Mitte; sie erheben sich mit ihrem Besten in absolute dichterische Höhe und
bleiben mit dem Rest in der Unterhaltersphäre stecken. Poetische Gaben ge¬
hören natürlich auch zum Unterhaltungsroman -- man braucht das kaum erst
zu betonen. Und es ist reizvoll, zu beobachten, wie oft der Poet und der
Unterhaltungsschriftsteller in einer Brust in Widerstreit geraten. Davon zeugt
manches verfehlte, manches halb gebliebne Buch. Die meisten unsrer aristo¬
kratischen und unsrer weiblichen Schriftsteller nehmen eine solche Mittelstellung
ein, die zum Beispiel bei Wilhelm von Potenz, Georg von Ompteda, Clara
Viebig sehr deutlich wird. Es ist kein Zufall, daß fast alle großen Roman¬
erfolge der letzten Zeit in diesen Umkreis fallen. Auch Otto Ernst (vielleicht
auch Gustav Frenssen) gehören zu diesen vermittelnden Naturen, die selbst¬
verständlich unter sich an Wert und Art wieder sehr verschieden sind. Sie
alle haben Werke geschrieben, die man ohne weiteres als Dichtungen ansprechen
muß: ich nenne nur den "Büttnerbauer" von Potenz, den "Sylvester von
Geyer" von Ompteda und die "Wacht am Rhein" von Viebig; sie alle haben
daneben reine Unterhaltungsbücher gegeben, und sie alle auch schufen zwie¬
spältige Werke, die zwischen beiden in der Mitte stehn.

Auch Adam Karrillon gehört in diese Kategorie. Er ist Arzt im Oden-
walde, 1853 geboren und erst spät als Schriftsteller hervorgetreten. Seine
Bücher aber haben, obwohl sie Erstlinge einer ausgereiften Natur sind, etwas
überaus jugendfrisches. Sie könnten, nach dem Duft und der Stimmung, die
über ihnen liegen, von einem Manne in den Zwanziger geschrieben sein. Und
da sich solche Spätlenzreize mit der geprüften Erfahrung eines in Lebens¬
kämpfen bewährten Herzens vereinen, kommt eine eigne Mischung zustande.


Ein neuer Erzähler

ganz ruhig einhcrschreitender Romain eines ganzen Dichters. Der kann es
technisch an sich fehlen lassen, wie Kellers Grüner Heinrich, kann aussehen wie
aus mehreren Stücken zusammengeflickt, gleich Vischers Auch Einer, oder mag
sich ins Plauderhafte verlieren, wie bei Fontane so oft — der Nachhall ist
stärker und echter als bei einem noch so abgerundeten Uuterhaltuugsromau. Der
Nachhall! Das ist der beste Hinweis auf den einzigen Richter im ungewissen
Streit. Die Nachwelt entscheidet schließlich, wenn die Mitwelt zweifelte. Man
kann es ruhig aussprechen: was die Menschen — ich rechne lange — fünfzig
Jahre nach seinem Erscheinen nicht mehr unterhält, war Unterhaltungsroman;
was sie dann noch fesselt, ist Dichtung. Wo sind die Autoren, die in den
fünfziger und sechziger, ja noch in den achtziger Jahren verschlungen wurden?
Aber Keller und Alexis, Raabe und Meyer blühen und leben heute noch, ob
sie auch außer dem einen, der in diesen Wochen fünfundsiebzig Jahre alt wird,
schon die Gefilde ihrer Erdentage verließen.

Nun weiß ich sehr gut, daß trotz cilledem die Grenzen flüssig sind. Paul
Heyse zum Beispiel hat manches geschrieben, was nur Unterhaltung ist. Aber
bei ihm überwiegt in dem großen Lebenswerke das andre so völlig, daß er
durchaus in jene Dichterreihe gehört. Andre Talente jedoch stehn in der
Mitte; sie erheben sich mit ihrem Besten in absolute dichterische Höhe und
bleiben mit dem Rest in der Unterhaltersphäre stecken. Poetische Gaben ge¬
hören natürlich auch zum Unterhaltungsroman — man braucht das kaum erst
zu betonen. Und es ist reizvoll, zu beobachten, wie oft der Poet und der
Unterhaltungsschriftsteller in einer Brust in Widerstreit geraten. Davon zeugt
manches verfehlte, manches halb gebliebne Buch. Die meisten unsrer aristo¬
kratischen und unsrer weiblichen Schriftsteller nehmen eine solche Mittelstellung
ein, die zum Beispiel bei Wilhelm von Potenz, Georg von Ompteda, Clara
Viebig sehr deutlich wird. Es ist kein Zufall, daß fast alle großen Roman¬
erfolge der letzten Zeit in diesen Umkreis fallen. Auch Otto Ernst (vielleicht
auch Gustav Frenssen) gehören zu diesen vermittelnden Naturen, die selbst¬
verständlich unter sich an Wert und Art wieder sehr verschieden sind. Sie
alle haben Werke geschrieben, die man ohne weiteres als Dichtungen ansprechen
muß: ich nenne nur den „Büttnerbauer" von Potenz, den „Sylvester von
Geyer" von Ompteda und die „Wacht am Rhein" von Viebig; sie alle haben
daneben reine Unterhaltungsbücher gegeben, und sie alle auch schufen zwie¬
spältige Werke, die zwischen beiden in der Mitte stehn.

Auch Adam Karrillon gehört in diese Kategorie. Er ist Arzt im Oden-
walde, 1853 geboren und erst spät als Schriftsteller hervorgetreten. Seine
Bücher aber haben, obwohl sie Erstlinge einer ausgereiften Natur sind, etwas
überaus jugendfrisches. Sie könnten, nach dem Duft und der Stimmung, die
über ihnen liegen, von einem Manne in den Zwanziger geschrieben sein. Und
da sich solche Spätlenzreize mit der geprüften Erfahrung eines in Lebens¬
kämpfen bewährten Herzens vereinen, kommt eine eigne Mischung zustande.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/46>, abgerufen am 15.05.2024.