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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Deutsche Liebesbriefe

aber ist für den Materialismus der Sozialisten noch nicht verbraucht genug.
Ich stehe mit solchen Anschauungen heute nicht mehr allein da. Kein geringerer
als Fürst Eugen Trubetzkoj schreibt zum Beispiel in Ur. 30 seines Moskowskij
Jeshenjedjelnik anläßlich einer Verurteilung der Duma wegen ihres Verhaltens
zum politischen Mord: "Diese Tatsache zeigte, daß die Dumamehrheit nicht von
ehrenhaften Idealen, sondern von opportunistischen Ideen geleitet wurde. ..."

Die Radikalen haben die Fesseln selbst geschmiedet, mit denen Rußland
vielleicht wieder für kurze Zeit an den Pfahl einer selbstherrlichen Bureaukratie
gebunden werden wird! Einen großen Überschuß an fortschrittlich denkenden
Männern, die nicht Sozialisten sind, hat Rußland nicht, und es besteht die
Gefahr, daß die kommenden Wahlen zerstören, was die Kadetten als "Oswo-
boshdjenee" vor 1905 geschaffen haben. Die Zukunft Rußlands ist heute
durchaus noch nicht entschieden. Bei den nächsten Wahlen werden Republikaner
und Absolutisten hart aneinander geraten, und der Zar wird nicht nur mutige
sondern auch kluge Minister brauchen, wenn er sich und sein Land vor dem
Ärgsten bewahren will. Gegenwärtig scheint P. A. Stolypin auf dem richtigen
Wege zu sein -- hoffentlich gleitet er nicht in die Bahn der "Allrussischen
Männer".


Deutsche Liebesbriefe

ullus Zeidler, der Verfasser mehrerer tüchtiger Werke aus dem
Gebiete der Ästhetik und geschmackvolle Übersetzer, hat im vorigen
Jahre im eignen Verlag eine Sammlung "Deutsche Liebes¬
briefe aus neun Jahrhunderten" herausgegeben. In einer "Ein¬
führung" begründet er in überzeugender Weise die Berechtigung
seines Unternehmens und erzählt, nach welchen Grundsätzen er dieses "Archiv
des Herzens" angelegt hat. Mustern wir einmal den bunten Inhalt!

Die ersten der mitgeteilten Episteln stammen aus dem zwölften Jahr¬
hundert. In einem wohldisponierten Schreiben, das allerlei allgemeine Be¬
trachtungen über Freundschaft, Glauben und Treue enthält, sucht die Liebende
bei aller Ergebenheit (sie schließt mit dem berühmten ein bist nnn, ik bin
ä!n usw.) dem Geliebten gegenüber ihren Standpunkt zu wahren. Die Ritter,
vor denen sie der Freund gewarnt hat, vermag sie nicht ganz zu verschmähen,
denn sie gelten ihr als Quelle und Ursprung aller Ehre. Der Empfänger
macht ihr in seinem Antwortbrief deshalb Vorwürfe, die sie dem Mißtrauischen
in einem neuen Schreiben zurückgibt.

Hatte sie dem Adressaten "alles, was fröhlich ist, alles, was selig ist",


Deutsche Liebesbriefe

aber ist für den Materialismus der Sozialisten noch nicht verbraucht genug.
Ich stehe mit solchen Anschauungen heute nicht mehr allein da. Kein geringerer
als Fürst Eugen Trubetzkoj schreibt zum Beispiel in Ur. 30 seines Moskowskij
Jeshenjedjelnik anläßlich einer Verurteilung der Duma wegen ihres Verhaltens
zum politischen Mord: „Diese Tatsache zeigte, daß die Dumamehrheit nicht von
ehrenhaften Idealen, sondern von opportunistischen Ideen geleitet wurde. ..."

Die Radikalen haben die Fesseln selbst geschmiedet, mit denen Rußland
vielleicht wieder für kurze Zeit an den Pfahl einer selbstherrlichen Bureaukratie
gebunden werden wird! Einen großen Überschuß an fortschrittlich denkenden
Männern, die nicht Sozialisten sind, hat Rußland nicht, und es besteht die
Gefahr, daß die kommenden Wahlen zerstören, was die Kadetten als „Oswo-
boshdjenee" vor 1905 geschaffen haben. Die Zukunft Rußlands ist heute
durchaus noch nicht entschieden. Bei den nächsten Wahlen werden Republikaner
und Absolutisten hart aneinander geraten, und der Zar wird nicht nur mutige
sondern auch kluge Minister brauchen, wenn er sich und sein Land vor dem
Ärgsten bewahren will. Gegenwärtig scheint P. A. Stolypin auf dem richtigen
Wege zu sein — hoffentlich gleitet er nicht in die Bahn der „Allrussischen
Männer".


Deutsche Liebesbriefe

ullus Zeidler, der Verfasser mehrerer tüchtiger Werke aus dem
Gebiete der Ästhetik und geschmackvolle Übersetzer, hat im vorigen
Jahre im eignen Verlag eine Sammlung „Deutsche Liebes¬
briefe aus neun Jahrhunderten" herausgegeben. In einer „Ein¬
führung" begründet er in überzeugender Weise die Berechtigung
seines Unternehmens und erzählt, nach welchen Grundsätzen er dieses „Archiv
des Herzens" angelegt hat. Mustern wir einmal den bunten Inhalt!

Die ersten der mitgeteilten Episteln stammen aus dem zwölften Jahr¬
hundert. In einem wohldisponierten Schreiben, das allerlei allgemeine Be¬
trachtungen über Freundschaft, Glauben und Treue enthält, sucht die Liebende
bei aller Ergebenheit (sie schließt mit dem berühmten ein bist nnn, ik bin
ä!n usw.) dem Geliebten gegenüber ihren Standpunkt zu wahren. Die Ritter,
vor denen sie der Freund gewarnt hat, vermag sie nicht ganz zu verschmähen,
denn sie gelten ihr als Quelle und Ursprung aller Ehre. Der Empfänger
macht ihr in seinem Antwortbrief deshalb Vorwürfe, die sie dem Mißtrauischen
in einem neuen Schreiben zurückgibt.

Hatte sie dem Adressaten „alles, was fröhlich ist, alles, was selig ist",


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[0534] Deutsche Liebesbriefe aber ist für den Materialismus der Sozialisten noch nicht verbraucht genug. Ich stehe mit solchen Anschauungen heute nicht mehr allein da. Kein geringerer als Fürst Eugen Trubetzkoj schreibt zum Beispiel in Ur. 30 seines Moskowskij Jeshenjedjelnik anläßlich einer Verurteilung der Duma wegen ihres Verhaltens zum politischen Mord: „Diese Tatsache zeigte, daß die Dumamehrheit nicht von ehrenhaften Idealen, sondern von opportunistischen Ideen geleitet wurde. ..." Die Radikalen haben die Fesseln selbst geschmiedet, mit denen Rußland vielleicht wieder für kurze Zeit an den Pfahl einer selbstherrlichen Bureaukratie gebunden werden wird! Einen großen Überschuß an fortschrittlich denkenden Männern, die nicht Sozialisten sind, hat Rußland nicht, und es besteht die Gefahr, daß die kommenden Wahlen zerstören, was die Kadetten als „Oswo- boshdjenee" vor 1905 geschaffen haben. Die Zukunft Rußlands ist heute durchaus noch nicht entschieden. Bei den nächsten Wahlen werden Republikaner und Absolutisten hart aneinander geraten, und der Zar wird nicht nur mutige sondern auch kluge Minister brauchen, wenn er sich und sein Land vor dem Ärgsten bewahren will. Gegenwärtig scheint P. A. Stolypin auf dem richtigen Wege zu sein — hoffentlich gleitet er nicht in die Bahn der „Allrussischen Männer". Deutsche Liebesbriefe ullus Zeidler, der Verfasser mehrerer tüchtiger Werke aus dem Gebiete der Ästhetik und geschmackvolle Übersetzer, hat im vorigen Jahre im eignen Verlag eine Sammlung „Deutsche Liebes¬ briefe aus neun Jahrhunderten" herausgegeben. In einer „Ein¬ führung" begründet er in überzeugender Weise die Berechtigung seines Unternehmens und erzählt, nach welchen Grundsätzen er dieses „Archiv des Herzens" angelegt hat. Mustern wir einmal den bunten Inhalt! Die ersten der mitgeteilten Episteln stammen aus dem zwölften Jahr¬ hundert. In einem wohldisponierten Schreiben, das allerlei allgemeine Be¬ trachtungen über Freundschaft, Glauben und Treue enthält, sucht die Liebende bei aller Ergebenheit (sie schließt mit dem berühmten ein bist nnn, ik bin ä!n usw.) dem Geliebten gegenüber ihren Standpunkt zu wahren. Die Ritter, vor denen sie der Freund gewarnt hat, vermag sie nicht ganz zu verschmähen, denn sie gelten ihr als Quelle und Ursprung aller Ehre. Der Empfänger macht ihr in seinem Antwortbrief deshalb Vorwürfe, die sie dem Mißtrauischen in einem neuen Schreiben zurückgibt. Hatte sie dem Adressaten „alles, was fröhlich ist, alles, was selig ist",

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/534>, abgerufen am 29.04.2024.