Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die Sperlinge auf dem Naschmarkt
I>Mus R. Haarhans Ein Leipziger Märchen von
(Fortsetzung)

is Christine die enge, von der blakenden Öllampe verräucherte Dach-
^ kammer ihres kranken Freundes verlassen hatte und durch die milde
Frühlingsluft dahinschritt, hörte sie in ihrer Tasche die beiden
Schlüssel, die er ihr anvertraut hatte, so lustig klappern, daß sie
darin eine Mahnung zu erkennen glaubte, sich ihres delikaten Auf-
! träges sogleich zu entledigen. Es war noch nicht spät, die Straßen
waren des schönen Wetters wegen kaum minder belebt als zu einer frühern Abend¬
stunde, und wenn sie sich ein wenig beeilte, so konnte sie dem Kranken das er¬
wünschte Mittel noch bringen, bevor das alte graue Haus in der Fleischergasse
abgeschlossen wurde. Sie beschleunigte also ihre Schritte, holte aus ihrer eignen
Wohnung im Salzgcißchen die Budenschlüssel und eine Laterne und kam gerade auf
dem Naschmarkt an, als ihre Feindin unter Beihilfe zweier Verehrer die Zumache¬
leinwand herabließ und mit Nägeln an den Seitenpfosten ihrer Zeltbude befestigte.
Dabei lachten und schäkerten die drei Leutchen so selbstvergessen, daß sie gar nicht
bemerkten, wie Christine mit einem giftigen Blick an ihnen vorüberhuschte, die
Olitcitenbude ausschloß und darin verschwand.

Nicht ohne Mühe zog sie den schweren Kasten aus seinem Versteck, kniete davor
nieder und kloppte, nachdem sie die beiden Schlüssel in die Löcher gesteckt und um¬
gedreht hatte, den mit Eisenbändern beschlagnen Deckel empor. Dann hob sie die
Laterne vom Boden auf und stellte sie ans einen Schemel, daß der Lichtschein voll
ans die geheimnisvollen Herrlichkeiten fiel.

Richtig, da hinten links in der Ecke standen drei ganz gleiche Büchschen! Sie
zog das mittlere davon heraus und steckte es in die Tasche. Nun hätte sie den
Kasten wieder schließen können, aber sie zögerte noch und betrachtete nachdenklich die
vielen Töpfchen, Flaschen und Paketchen, die so dicht auf- und nebeneinander gestellt
und geschichtet waren, daß keine Stecknadel zwischen ihnen hätte zu Boden fallen
können. Was die wohl alles enthalten mochten?

An einer einzigen Stelle war eine Lücke. Dort mochte die Flasche gestanden
haben, die Christine in der Dachkammer des Alten auf dem Wandbrett bemerkt hatte.

Ja, Ztnngrciber hatte Recht, wenn er Bedenken trug, fremde Hände in diesen
Dingen herumkramen zu lassen. Wer da nicht Bescheid wußte, der konnte unter all
den verschiedenartigen Sächelchen eine heillose Unordnung anrichten. Nein, kramen
wollte sie nicht darin, das hatte sie ihm ja versprochen. Aber einen Blick hinein¬
tun -- das würde doch wohl erlaubt sein. Sie beugte sich über den Kasten und
sog begierig den aus allerlei zarten und aromatischen Düften gemischten Geruch ein,
den all die Schächtelchen, Büchschen und Paketchen ausströmten. Wo in den dicht¬
gedrängten Reihen von Behältnissen die Lücke war, konnte sie eine Flasche bemerken,
die ein von oben bis unten mit enger Schrift bedecktes Schildchen aufwies.




Die Sperlinge auf dem Naschmarkt
I>Mus R. Haarhans Ein Leipziger Märchen von
(Fortsetzung)

is Christine die enge, von der blakenden Öllampe verräucherte Dach-
^ kammer ihres kranken Freundes verlassen hatte und durch die milde
Frühlingsluft dahinschritt, hörte sie in ihrer Tasche die beiden
Schlüssel, die er ihr anvertraut hatte, so lustig klappern, daß sie
darin eine Mahnung zu erkennen glaubte, sich ihres delikaten Auf-
! träges sogleich zu entledigen. Es war noch nicht spät, die Straßen
waren des schönen Wetters wegen kaum minder belebt als zu einer frühern Abend¬
stunde, und wenn sie sich ein wenig beeilte, so konnte sie dem Kranken das er¬
wünschte Mittel noch bringen, bevor das alte graue Haus in der Fleischergasse
abgeschlossen wurde. Sie beschleunigte also ihre Schritte, holte aus ihrer eignen
Wohnung im Salzgcißchen die Budenschlüssel und eine Laterne und kam gerade auf
dem Naschmarkt an, als ihre Feindin unter Beihilfe zweier Verehrer die Zumache¬
leinwand herabließ und mit Nägeln an den Seitenpfosten ihrer Zeltbude befestigte.
Dabei lachten und schäkerten die drei Leutchen so selbstvergessen, daß sie gar nicht
bemerkten, wie Christine mit einem giftigen Blick an ihnen vorüberhuschte, die
Olitcitenbude ausschloß und darin verschwand.

Nicht ohne Mühe zog sie den schweren Kasten aus seinem Versteck, kniete davor
nieder und kloppte, nachdem sie die beiden Schlüssel in die Löcher gesteckt und um¬
gedreht hatte, den mit Eisenbändern beschlagnen Deckel empor. Dann hob sie die
Laterne vom Boden auf und stellte sie ans einen Schemel, daß der Lichtschein voll
ans die geheimnisvollen Herrlichkeiten fiel.

Richtig, da hinten links in der Ecke standen drei ganz gleiche Büchschen! Sie
zog das mittlere davon heraus und steckte es in die Tasche. Nun hätte sie den
Kasten wieder schließen können, aber sie zögerte noch und betrachtete nachdenklich die
vielen Töpfchen, Flaschen und Paketchen, die so dicht auf- und nebeneinander gestellt
und geschichtet waren, daß keine Stecknadel zwischen ihnen hätte zu Boden fallen
können. Was die wohl alles enthalten mochten?

An einer einzigen Stelle war eine Lücke. Dort mochte die Flasche gestanden
haben, die Christine in der Dachkammer des Alten auf dem Wandbrett bemerkt hatte.

Ja, Ztnngrciber hatte Recht, wenn er Bedenken trug, fremde Hände in diesen
Dingen herumkramen zu lassen. Wer da nicht Bescheid wußte, der konnte unter all
den verschiedenartigen Sächelchen eine heillose Unordnung anrichten. Nein, kramen
wollte sie nicht darin, das hatte sie ihm ja versprochen. Aber einen Blick hinein¬
tun — das würde doch wohl erlaubt sein. Sie beugte sich über den Kasten und
sog begierig den aus allerlei zarten und aromatischen Düften gemischten Geruch ein,
den all die Schächtelchen, Büchschen und Paketchen ausströmten. Wo in den dicht¬
gedrängten Reihen von Behältnissen die Lücke war, konnte sie eine Flasche bemerken,
die ein von oben bis unten mit enger Schrift bedecktes Schildchen aufwies.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0672" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301171"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341883_300500/figures/grenzboten_341883_300500_301171_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Sperlinge auf dem Naschmarkt<lb/><note type="byline"> I&gt;Mus R. Haarhans</note> Ein Leipziger Märchen von<lb/>
(Fortsetzung)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2709"> is Christine die enge, von der blakenden Öllampe verräucherte Dach-<lb/>
^ kammer ihres kranken Freundes verlassen hatte und durch die milde<lb/>
Frühlingsluft dahinschritt, hörte sie in ihrer Tasche die beiden<lb/>
Schlüssel, die er ihr anvertraut hatte, so lustig klappern, daß sie<lb/>
darin eine Mahnung zu erkennen glaubte, sich ihres delikaten Auf-<lb/>
! träges sogleich zu entledigen. Es war noch nicht spät, die Straßen<lb/>
waren des schönen Wetters wegen kaum minder belebt als zu einer frühern Abend¬<lb/>
stunde, und wenn sie sich ein wenig beeilte, so konnte sie dem Kranken das er¬<lb/>
wünschte Mittel noch bringen, bevor das alte graue Haus in der Fleischergasse<lb/>
abgeschlossen wurde. Sie beschleunigte also ihre Schritte, holte aus ihrer eignen<lb/>
Wohnung im Salzgcißchen die Budenschlüssel und eine Laterne und kam gerade auf<lb/>
dem Naschmarkt an, als ihre Feindin unter Beihilfe zweier Verehrer die Zumache¬<lb/>
leinwand herabließ und mit Nägeln an den Seitenpfosten ihrer Zeltbude befestigte.<lb/>
Dabei lachten und schäkerten die drei Leutchen so selbstvergessen, daß sie gar nicht<lb/>
bemerkten, wie Christine mit einem giftigen Blick an ihnen vorüberhuschte, die<lb/>
Olitcitenbude ausschloß und darin verschwand.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2710"> Nicht ohne Mühe zog sie den schweren Kasten aus seinem Versteck, kniete davor<lb/>
nieder und kloppte, nachdem sie die beiden Schlüssel in die Löcher gesteckt und um¬<lb/>
gedreht hatte, den mit Eisenbändern beschlagnen Deckel empor. Dann hob sie die<lb/>
Laterne vom Boden auf und stellte sie ans einen Schemel, daß der Lichtschein voll<lb/>
ans die geheimnisvollen Herrlichkeiten fiel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2711"> Richtig, da hinten links in der Ecke standen drei ganz gleiche Büchschen! Sie<lb/>
zog das mittlere davon heraus und steckte es in die Tasche. Nun hätte sie den<lb/>
Kasten wieder schließen können, aber sie zögerte noch und betrachtete nachdenklich die<lb/>
vielen Töpfchen, Flaschen und Paketchen, die so dicht auf- und nebeneinander gestellt<lb/>
und geschichtet waren, daß keine Stecknadel zwischen ihnen hätte zu Boden fallen<lb/>
können.  Was die wohl alles enthalten mochten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2712"> An einer einzigen Stelle war eine Lücke. Dort mochte die Flasche gestanden<lb/>
haben, die Christine in der Dachkammer des Alten auf dem Wandbrett bemerkt hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2713"> Ja, Ztnngrciber hatte Recht, wenn er Bedenken trug, fremde Hände in diesen<lb/>
Dingen herumkramen zu lassen. Wer da nicht Bescheid wußte, der konnte unter all<lb/>
den verschiedenartigen Sächelchen eine heillose Unordnung anrichten. Nein, kramen<lb/>
wollte sie nicht darin, das hatte sie ihm ja versprochen. Aber einen Blick hinein¬<lb/>
tun &#x2014; das würde doch wohl erlaubt sein. Sie beugte sich über den Kasten und<lb/>
sog begierig den aus allerlei zarten und aromatischen Düften gemischten Geruch ein,<lb/>
den all die Schächtelchen, Büchschen und Paketchen ausströmten. Wo in den dicht¬<lb/>
gedrängten Reihen von Behältnissen die Lücke war, konnte sie eine Flasche bemerken,<lb/>
die ein von oben bis unten mit enger Schrift bedecktes Schildchen aufwies.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0672] [Abbildung] Die Sperlinge auf dem Naschmarkt I>Mus R. Haarhans Ein Leipziger Märchen von (Fortsetzung) is Christine die enge, von der blakenden Öllampe verräucherte Dach- ^ kammer ihres kranken Freundes verlassen hatte und durch die milde Frühlingsluft dahinschritt, hörte sie in ihrer Tasche die beiden Schlüssel, die er ihr anvertraut hatte, so lustig klappern, daß sie darin eine Mahnung zu erkennen glaubte, sich ihres delikaten Auf- ! träges sogleich zu entledigen. Es war noch nicht spät, die Straßen waren des schönen Wetters wegen kaum minder belebt als zu einer frühern Abend¬ stunde, und wenn sie sich ein wenig beeilte, so konnte sie dem Kranken das er¬ wünschte Mittel noch bringen, bevor das alte graue Haus in der Fleischergasse abgeschlossen wurde. Sie beschleunigte also ihre Schritte, holte aus ihrer eignen Wohnung im Salzgcißchen die Budenschlüssel und eine Laterne und kam gerade auf dem Naschmarkt an, als ihre Feindin unter Beihilfe zweier Verehrer die Zumache¬ leinwand herabließ und mit Nägeln an den Seitenpfosten ihrer Zeltbude befestigte. Dabei lachten und schäkerten die drei Leutchen so selbstvergessen, daß sie gar nicht bemerkten, wie Christine mit einem giftigen Blick an ihnen vorüberhuschte, die Olitcitenbude ausschloß und darin verschwand. Nicht ohne Mühe zog sie den schweren Kasten aus seinem Versteck, kniete davor nieder und kloppte, nachdem sie die beiden Schlüssel in die Löcher gesteckt und um¬ gedreht hatte, den mit Eisenbändern beschlagnen Deckel empor. Dann hob sie die Laterne vom Boden auf und stellte sie ans einen Schemel, daß der Lichtschein voll ans die geheimnisvollen Herrlichkeiten fiel. Richtig, da hinten links in der Ecke standen drei ganz gleiche Büchschen! Sie zog das mittlere davon heraus und steckte es in die Tasche. Nun hätte sie den Kasten wieder schließen können, aber sie zögerte noch und betrachtete nachdenklich die vielen Töpfchen, Flaschen und Paketchen, die so dicht auf- und nebeneinander gestellt und geschichtet waren, daß keine Stecknadel zwischen ihnen hätte zu Boden fallen können. Was die wohl alles enthalten mochten? An einer einzigen Stelle war eine Lücke. Dort mochte die Flasche gestanden haben, die Christine in der Dachkammer des Alten auf dem Wandbrett bemerkt hatte. Ja, Ztnngrciber hatte Recht, wenn er Bedenken trug, fremde Hände in diesen Dingen herumkramen zu lassen. Wer da nicht Bescheid wußte, der konnte unter all den verschiedenartigen Sächelchen eine heillose Unordnung anrichten. Nein, kramen wollte sie nicht darin, das hatte sie ihm ja versprochen. Aber einen Blick hinein¬ tun — das würde doch wohl erlaubt sein. Sie beugte sich über den Kasten und sog begierig den aus allerlei zarten und aromatischen Düften gemischten Geruch ein, den all die Schächtelchen, Büchschen und Paketchen ausströmten. Wo in den dicht¬ gedrängten Reihen von Behältnissen die Lücke war, konnte sie eine Flasche bemerken, die ein von oben bis unten mit enger Schrift bedecktes Schildchen aufwies.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/672
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/672>, abgerufen am 29.04.2024.