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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Der lahme Vassilis

Weibsperson, so die Lutherische Religion angenommen und zu Hamburg in
Se. Michaelis Kirche getauft worden".

Vielleicht sah man auf jedes kleine Anzeichen der Ausbreitung des evan¬
gelischen Bekenntnisses um so wohlgefälliger, als in Frankreich schon wieder
neue Wetterwolken gegen die gereinigte Lehre aufstiegen. Daß man aber von der
Verfolgung der Hugenotten in ganz Deutschland schnellstens Kunde erhielt, dafür
sorgten besser als Post und Zeitung die beredten Schilderungen der Vertriebnen.
Ihnen und ihren Gesinnungsgenossen wurde doppelt gegeben, da sie um ihren
Glauben gelitten hatten. So spendete man gern zum Wiederaufbau der evan¬
gelischen Kirchen zu Höxter an der Weser, und sechs Groschen sind verzeichnet
"zu Erbauung zweyer abgebrannter Lutherischer Kirchen, Raths-, Pfarr- und
Schulhüuser zu Oppernau in der Unterpfalz, so kurz vorher mit 8000 Reichs¬
thaler französischer Brandschatzung eingelöset worden, in welcher Stadt am
11. November 1683 über obengenannte Haupt Gebäude noch 229 Wohn¬
häuser zu Nachts abgebrannt. Das Feuer haben die vaAirsnciön Mordbrenner
angeleget."

Das ist die letzte Nachricht von charakteristischem Gepräge, die die Stadt-
rcchnungen unsers Rathauses aus dem achtzehnten Jahrhundert zu diesem
Gegenstande enthalten. Die meisten Rechnungen zwischen 1685 und 1700
fehlen, und die drei oder vier vorhandnen weisen auf besondre, abhanden ge-
kommne Almosenregister hin. Wir stehn überdies am Anfang der Zeit, wo sich
die Ortsarmenpflege zu entwickeln begann, und dadurch das Bettelleben der
Landstraße viel von seinem charakteristischen Gepräge verlor.




Der lahme Vassilis
Uostas paroritis von
Aus dem neugriechischen von A. Dieterich

er Leichenwagen rollte geschwind den Weg zum Friedhof entlang,
gerade um die Zeit, wo sich die Sonne hinter seine ragenden
Zypressen neigte. Ein starker, mit Schnee vermischter Regen schlug
erbarmungslos dem Toten ins Gesicht, der in seinem kurzen, schmalen,
ungehobelten Sarge zusammengekauert dalag.") Der Kutscher schwang
die Peitsche, und der Wagen fuhr schnell dahin, wahrend der Kopf
des Toten nach rechts und links schwankte. Ein kleiner barfüßiger Junge saß,
das Kreuz haltend, neben dem Kutscher, vergnügt über die Wagenfahrt trotz des
Schneewetters, und drinnen im Wagen kauerte sich ein Pope in der Stola in eine
Ecke, um sich vor dem wilden Nordwinde zu schützen, der ihm seinen weißen Bart
hin und her wehte. Hinter dem Wagen schritten zwei Männer, ein paar alte



In Griechenland werden die Toten in offnem Sarge transportiert.
Der lahme Vassilis

Weibsperson, so die Lutherische Religion angenommen und zu Hamburg in
Se. Michaelis Kirche getauft worden".

Vielleicht sah man auf jedes kleine Anzeichen der Ausbreitung des evan¬
gelischen Bekenntnisses um so wohlgefälliger, als in Frankreich schon wieder
neue Wetterwolken gegen die gereinigte Lehre aufstiegen. Daß man aber von der
Verfolgung der Hugenotten in ganz Deutschland schnellstens Kunde erhielt, dafür
sorgten besser als Post und Zeitung die beredten Schilderungen der Vertriebnen.
Ihnen und ihren Gesinnungsgenossen wurde doppelt gegeben, da sie um ihren
Glauben gelitten hatten. So spendete man gern zum Wiederaufbau der evan¬
gelischen Kirchen zu Höxter an der Weser, und sechs Groschen sind verzeichnet
„zu Erbauung zweyer abgebrannter Lutherischer Kirchen, Raths-, Pfarr- und
Schulhüuser zu Oppernau in der Unterpfalz, so kurz vorher mit 8000 Reichs¬
thaler französischer Brandschatzung eingelöset worden, in welcher Stadt am
11. November 1683 über obengenannte Haupt Gebäude noch 229 Wohn¬
häuser zu Nachts abgebrannt. Das Feuer haben die vaAirsnciön Mordbrenner
angeleget."

Das ist die letzte Nachricht von charakteristischem Gepräge, die die Stadt-
rcchnungen unsers Rathauses aus dem achtzehnten Jahrhundert zu diesem
Gegenstande enthalten. Die meisten Rechnungen zwischen 1685 und 1700
fehlen, und die drei oder vier vorhandnen weisen auf besondre, abhanden ge-
kommne Almosenregister hin. Wir stehn überdies am Anfang der Zeit, wo sich
die Ortsarmenpflege zu entwickeln begann, und dadurch das Bettelleben der
Landstraße viel von seinem charakteristischen Gepräge verlor.




Der lahme Vassilis
Uostas paroritis von
Aus dem neugriechischen von A. Dieterich

er Leichenwagen rollte geschwind den Weg zum Friedhof entlang,
gerade um die Zeit, wo sich die Sonne hinter seine ragenden
Zypressen neigte. Ein starker, mit Schnee vermischter Regen schlug
erbarmungslos dem Toten ins Gesicht, der in seinem kurzen, schmalen,
ungehobelten Sarge zusammengekauert dalag.") Der Kutscher schwang
die Peitsche, und der Wagen fuhr schnell dahin, wahrend der Kopf
des Toten nach rechts und links schwankte. Ein kleiner barfüßiger Junge saß,
das Kreuz haltend, neben dem Kutscher, vergnügt über die Wagenfahrt trotz des
Schneewetters, und drinnen im Wagen kauerte sich ein Pope in der Stola in eine
Ecke, um sich vor dem wilden Nordwinde zu schützen, der ihm seinen weißen Bart
hin und her wehte. Hinter dem Wagen schritten zwei Männer, ein paar alte



In Griechenland werden die Toten in offnem Sarge transportiert.
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[0534] Der lahme Vassilis Weibsperson, so die Lutherische Religion angenommen und zu Hamburg in Se. Michaelis Kirche getauft worden". Vielleicht sah man auf jedes kleine Anzeichen der Ausbreitung des evan¬ gelischen Bekenntnisses um so wohlgefälliger, als in Frankreich schon wieder neue Wetterwolken gegen die gereinigte Lehre aufstiegen. Daß man aber von der Verfolgung der Hugenotten in ganz Deutschland schnellstens Kunde erhielt, dafür sorgten besser als Post und Zeitung die beredten Schilderungen der Vertriebnen. Ihnen und ihren Gesinnungsgenossen wurde doppelt gegeben, da sie um ihren Glauben gelitten hatten. So spendete man gern zum Wiederaufbau der evan¬ gelischen Kirchen zu Höxter an der Weser, und sechs Groschen sind verzeichnet „zu Erbauung zweyer abgebrannter Lutherischer Kirchen, Raths-, Pfarr- und Schulhüuser zu Oppernau in der Unterpfalz, so kurz vorher mit 8000 Reichs¬ thaler französischer Brandschatzung eingelöset worden, in welcher Stadt am 11. November 1683 über obengenannte Haupt Gebäude noch 229 Wohn¬ häuser zu Nachts abgebrannt. Das Feuer haben die vaAirsnciön Mordbrenner angeleget." Das ist die letzte Nachricht von charakteristischem Gepräge, die die Stadt- rcchnungen unsers Rathauses aus dem achtzehnten Jahrhundert zu diesem Gegenstande enthalten. Die meisten Rechnungen zwischen 1685 und 1700 fehlen, und die drei oder vier vorhandnen weisen auf besondre, abhanden ge- kommne Almosenregister hin. Wir stehn überdies am Anfang der Zeit, wo sich die Ortsarmenpflege zu entwickeln begann, und dadurch das Bettelleben der Landstraße viel von seinem charakteristischen Gepräge verlor. Der lahme Vassilis Uostas paroritis von Aus dem neugriechischen von A. Dieterich er Leichenwagen rollte geschwind den Weg zum Friedhof entlang, gerade um die Zeit, wo sich die Sonne hinter seine ragenden Zypressen neigte. Ein starker, mit Schnee vermischter Regen schlug erbarmungslos dem Toten ins Gesicht, der in seinem kurzen, schmalen, ungehobelten Sarge zusammengekauert dalag.") Der Kutscher schwang die Peitsche, und der Wagen fuhr schnell dahin, wahrend der Kopf des Toten nach rechts und links schwankte. Ein kleiner barfüßiger Junge saß, das Kreuz haltend, neben dem Kutscher, vergnügt über die Wagenfahrt trotz des Schneewetters, und drinnen im Wagen kauerte sich ein Pope in der Stola in eine Ecke, um sich vor dem wilden Nordwinde zu schützen, der ihm seinen weißen Bart hin und her wehte. Hinter dem Wagen schritten zwei Männer, ein paar alte In Griechenland werden die Toten in offnem Sarge transportiert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/534>, abgerufen am 03.05.2024.