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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Vor lahme vassilis

Frauen und ganz zuletzt ein lahmer junger Mensch von etwa zwanzig Jahren,
und alle leuchten, um den Wagen einzuholen, der wie besessen dahinjagte. Doch
der lahme junge Mensch war vom Laufen müde und verlangsamte seinen Schritt,
während seine Lippen unaufhörlich in weinerlichen Tone lispelten: Mein Vater
liebes Väterchen!

Der Wagen entschwand den Blicken und ließ den Lahmen weit hinter sich
zurück, dem von Schnee und Regen das Gesicht brannte. Wie er endlich auf dem
Friedhof anlangte, sah er den Leichenwagen leer zurückkommen.

Sie haben ihn gar schon begraben, sagte er weinend vor sich hin.

Ein Totengräber führte ihn zum Grabe und zeigte ihm das frisch zuge¬
schaufelte Grab. Da warf sich der Sohn zu Boden und fing an zu jammern
"ut stieß herzzerreißende Töne aus: Vater, liebes Väterchen, nun hast du mich
verlassen.

Die andern waren schon fort. Er kehrte allein zurück. Als die Sonne schon
untergegangen war. kam er zu Hause an.

Die ganze Nacht blieb er auf. Was sollte aus ihm werden, wohin sollte
^' sich wenden? Aber auch wenn er wollte, wo sollte er schlafen? Der Regen
drang tropfenweis herein, von den Dachsteinen tropfte es hernieder, und das Wasser
bildete einen See in der Stube. Am nächsten Morgen suchte er alle seine Sieben¬
ten zusammen, machte ein Bündelchen aus seinen Kleidern, hängte es über die
Schulter und schlug den Weg nach dem Dorfe zu ein, wo ein Onkel von ihm
wohnte.

Wenn er mir öffnet, dachte er, gut; sonst werd ich krepieren wie ein Hund.




Mitternacht war vorüber. Der alte Paul hatte gerade ausgeschlafen, erhob
und in seinen Kleidern neben dem Herde, warf einige Scheite ins Feuer, und der
Stumpf, der noch vom Abend her glimmte, warf einen roten Widerschein. Auch
seine Alte stand auf wie immer und stellte den Kaffeetopf ans Feuer. Die Kälte
war streng, und inmitten des leuchtenden Geknisters des Holzes klang das Pfeifen
des Nordwindes wie eine sanfte Melodie.

Die beiden Alten sprachen leise miteinander.

Wir sind arme Leute, und Gott weiß, wie wir mit soviel Familie auskommen
sollen, sagte die Alte, den Kaffee in die Tassen gießend.

Es ist Christenpflicht. Dann ist er ja auch unser Verwandter, erwiderte
der Alte.

Mag er arbeiten.

Was soll ein gebrechlicher Mensch arbeiten?

Die Alte nahm die dampfende Tasse zur Hand und begann langsam zu
schlürfen, bei jedem Schluck die Augen halb zukneifend. Der alte Paul schürte das
Feuer. Er schien in Nachdenken versunken.

Ich hab einen Gedanken. Zur Arbeit taugt er nicht. Wenn wir ihm etwas
^eher "ut Schreiben beibrachten, könnte er irgendwo als Schreiber eintreten und
und sein Brot verdienen. Er kann ja auch schon etwas.

Die Alte besann sich ein Weilchen.

Aber auf wessen Kosten? fragte sie.

Von dem bißchen, was wir haben. Aber wird er in seinein Alter nochmal
zur Schule gehn wollen?

Vassilis schlief in der Nebenstube. An jenem Abend konnte er nicht schlafen,
und ohne es zu wollen, hörte er das Gespräch der Alten mit an. Er merkte


Vor lahme vassilis

Frauen und ganz zuletzt ein lahmer junger Mensch von etwa zwanzig Jahren,
und alle leuchten, um den Wagen einzuholen, der wie besessen dahinjagte. Doch
der lahme junge Mensch war vom Laufen müde und verlangsamte seinen Schritt,
während seine Lippen unaufhörlich in weinerlichen Tone lispelten: Mein Vater
liebes Väterchen!

Der Wagen entschwand den Blicken und ließ den Lahmen weit hinter sich
zurück, dem von Schnee und Regen das Gesicht brannte. Wie er endlich auf dem
Friedhof anlangte, sah er den Leichenwagen leer zurückkommen.

Sie haben ihn gar schon begraben, sagte er weinend vor sich hin.

Ein Totengräber führte ihn zum Grabe und zeigte ihm das frisch zuge¬
schaufelte Grab. Da warf sich der Sohn zu Boden und fing an zu jammern
"ut stieß herzzerreißende Töne aus: Vater, liebes Väterchen, nun hast du mich
verlassen.

Die andern waren schon fort. Er kehrte allein zurück. Als die Sonne schon
untergegangen war. kam er zu Hause an.

Die ganze Nacht blieb er auf. Was sollte aus ihm werden, wohin sollte
^' sich wenden? Aber auch wenn er wollte, wo sollte er schlafen? Der Regen
drang tropfenweis herein, von den Dachsteinen tropfte es hernieder, und das Wasser
bildete einen See in der Stube. Am nächsten Morgen suchte er alle seine Sieben¬
ten zusammen, machte ein Bündelchen aus seinen Kleidern, hängte es über die
Schulter und schlug den Weg nach dem Dorfe zu ein, wo ein Onkel von ihm
wohnte.

Wenn er mir öffnet, dachte er, gut; sonst werd ich krepieren wie ein Hund.




Mitternacht war vorüber. Der alte Paul hatte gerade ausgeschlafen, erhob
und in seinen Kleidern neben dem Herde, warf einige Scheite ins Feuer, und der
Stumpf, der noch vom Abend her glimmte, warf einen roten Widerschein. Auch
seine Alte stand auf wie immer und stellte den Kaffeetopf ans Feuer. Die Kälte
war streng, und inmitten des leuchtenden Geknisters des Holzes klang das Pfeifen
des Nordwindes wie eine sanfte Melodie.

Die beiden Alten sprachen leise miteinander.

Wir sind arme Leute, und Gott weiß, wie wir mit soviel Familie auskommen
sollen, sagte die Alte, den Kaffee in die Tassen gießend.

Es ist Christenpflicht. Dann ist er ja auch unser Verwandter, erwiderte
der Alte.

Mag er arbeiten.

Was soll ein gebrechlicher Mensch arbeiten?

Die Alte nahm die dampfende Tasse zur Hand und begann langsam zu
schlürfen, bei jedem Schluck die Augen halb zukneifend. Der alte Paul schürte das
Feuer. Er schien in Nachdenken versunken.

Ich hab einen Gedanken. Zur Arbeit taugt er nicht. Wenn wir ihm etwas
^eher „ut Schreiben beibrachten, könnte er irgendwo als Schreiber eintreten und
und sein Brot verdienen. Er kann ja auch schon etwas.

Die Alte besann sich ein Weilchen.

Aber auf wessen Kosten? fragte sie.

Von dem bißchen, was wir haben. Aber wird er in seinein Alter nochmal
zur Schule gehn wollen?

Vassilis schlief in der Nebenstube. An jenem Abend konnte er nicht schlafen,
und ohne es zu wollen, hörte er das Gespräch der Alten mit an. Er merkte


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[0535] Vor lahme vassilis Frauen und ganz zuletzt ein lahmer junger Mensch von etwa zwanzig Jahren, und alle leuchten, um den Wagen einzuholen, der wie besessen dahinjagte. Doch der lahme junge Mensch war vom Laufen müde und verlangsamte seinen Schritt, während seine Lippen unaufhörlich in weinerlichen Tone lispelten: Mein Vater liebes Väterchen! Der Wagen entschwand den Blicken und ließ den Lahmen weit hinter sich zurück, dem von Schnee und Regen das Gesicht brannte. Wie er endlich auf dem Friedhof anlangte, sah er den Leichenwagen leer zurückkommen. Sie haben ihn gar schon begraben, sagte er weinend vor sich hin. Ein Totengräber führte ihn zum Grabe und zeigte ihm das frisch zuge¬ schaufelte Grab. Da warf sich der Sohn zu Boden und fing an zu jammern "ut stieß herzzerreißende Töne aus: Vater, liebes Väterchen, nun hast du mich verlassen. Die andern waren schon fort. Er kehrte allein zurück. Als die Sonne schon untergegangen war. kam er zu Hause an. Die ganze Nacht blieb er auf. Was sollte aus ihm werden, wohin sollte ^' sich wenden? Aber auch wenn er wollte, wo sollte er schlafen? Der Regen drang tropfenweis herein, von den Dachsteinen tropfte es hernieder, und das Wasser bildete einen See in der Stube. Am nächsten Morgen suchte er alle seine Sieben¬ ten zusammen, machte ein Bündelchen aus seinen Kleidern, hängte es über die Schulter und schlug den Weg nach dem Dorfe zu ein, wo ein Onkel von ihm wohnte. Wenn er mir öffnet, dachte er, gut; sonst werd ich krepieren wie ein Hund. Mitternacht war vorüber. Der alte Paul hatte gerade ausgeschlafen, erhob und in seinen Kleidern neben dem Herde, warf einige Scheite ins Feuer, und der Stumpf, der noch vom Abend her glimmte, warf einen roten Widerschein. Auch seine Alte stand auf wie immer und stellte den Kaffeetopf ans Feuer. Die Kälte war streng, und inmitten des leuchtenden Geknisters des Holzes klang das Pfeifen des Nordwindes wie eine sanfte Melodie. Die beiden Alten sprachen leise miteinander. Wir sind arme Leute, und Gott weiß, wie wir mit soviel Familie auskommen sollen, sagte die Alte, den Kaffee in die Tassen gießend. Es ist Christenpflicht. Dann ist er ja auch unser Verwandter, erwiderte der Alte. Mag er arbeiten. Was soll ein gebrechlicher Mensch arbeiten? Die Alte nahm die dampfende Tasse zur Hand und begann langsam zu schlürfen, bei jedem Schluck die Augen halb zukneifend. Der alte Paul schürte das Feuer. Er schien in Nachdenken versunken. Ich hab einen Gedanken. Zur Arbeit taugt er nicht. Wenn wir ihm etwas ^eher „ut Schreiben beibrachten, könnte er irgendwo als Schreiber eintreten und und sein Brot verdienen. Er kann ja auch schon etwas. Die Alte besann sich ein Weilchen. Aber auf wessen Kosten? fragte sie. Von dem bißchen, was wir haben. Aber wird er in seinein Alter nochmal zur Schule gehn wollen? Vassilis schlief in der Nebenstube. An jenem Abend konnte er nicht schlafen, und ohne es zu wollen, hörte er das Gespräch der Alten mit an. Er merkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/535>, abgerufen am 20.05.2024.