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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Ferdinand Brunetiere

Anschauungen gebaut werden. Die Entscheidung in der Alternative namentlich,
ob man sich die Welt durch Zufall entstanden oder von einem allmächtigen,
intelligenten Wesen geschaffen denken soll, hängt nicht von dem Maße oder der
Art naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ab, sondern von Herzensbedürfnissen und
Neigungen. Allerdings stellt uns die heutige Naturerkenntnis eine solche Fülle
der wunderbarsten Zweckmäßigkeiten vor Augen, daß es ungemein schwierig ist,
die Vernunft zum Schweigen zu bringen, die den zwecksetzenden und nach Zwecken
waltenden Ordner des Weltalls fordert. Daß jedoch anch dieses Schwierige
geleistet werden kann, das sehen wir ja täglich an Haeckel und seinen Jüngern.




Ferdinand Brunetiere
in. I- Minckwitz von

HM
ZVV> er das Lebenswerk des am 10. Dezember 1906 im achtundfünf¬
zigsten Lebensjahre verstorbnen Schriftstellers Ferdinand Brunetiere
einer genauern Prüfung unterzieht, fühlt sich nicht wenig be¬
troffen von dem Mangel an Einheitlichkeit, der innerhalb dieser
! nicht allzuweit ausgedehnten Lebens- und Arbeitsfrist zutage
tritt. Man wird nicht leicht eine zweite Persönlichkeit nennen können, deren
Ansichten eine gleiche Fülle von Paradoxen und Widersprüchen anhaften. Auch
in Brunetiere ist die ruhige Lebensanschauung, die große Denker früherer
Jahrhunderte auszuzeichnen pflegte, der modernen Unrast zum Opfer gefallen.
Die geistige Hast der Neuzeit zieht leider immer schlimmere Folgen nach sich,
insbesondre verwickelt sie produktive Schriftsteller in Widersprüche, deren
spezieller Ursprung sich oft nicht genau bestimmen läßt. Gewiß spielen dabei nicht
an letzter Stelle auch Gedächtnisfehler mit, die vorübergehender Erschöpfung
zuzuschreiben sind, aber der Nachweis andrer Motive ist doch nur mit großer
Behutsamkeit zu erbringen. Bei Brunetiere bedarf es einer besonders gewissen¬
haften Sichtung auftauchender Probleme, wenn man seine anscheinenden
Schwankungen und Schwenkungen enträtseln will. Handelt es sich bei diesem
rastlos strebenden Forscher doch vor allem nicht um Charakterschwäche oder
um wenig ehrenvolle Zugeständnisse an den krankhaften Ehrgeiz, für dessen
Befriedigung das heutige Frankreich die trefflich ironisierende Bezeichnung
arrivisiQö in Aufnahme gebracht hat. Diesen Vorwurf könnten nicht einmal
die erbitterten Gegner des unermüdlichen Kämpfers erheben. Auch die hoch¬
moderne Form seiner Publikationen ist wohl eher den Verhältnissen als ihm
selbst zur Last zu legen. Vorlesungen, die neue Theorien in akademischen
Kreisen verbreiten sollten, Vorträge, die im Inlande und im Auslande bei
einer zahlreichen, bunt (nicht bloß nach Geschlechtern) gemischten Zuhörerschaft
Anklang fanden, kritische Beurteilungen von wichtigen Neuigkeiten auf dem


Ferdinand Brunetiere

Anschauungen gebaut werden. Die Entscheidung in der Alternative namentlich,
ob man sich die Welt durch Zufall entstanden oder von einem allmächtigen,
intelligenten Wesen geschaffen denken soll, hängt nicht von dem Maße oder der
Art naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ab, sondern von Herzensbedürfnissen und
Neigungen. Allerdings stellt uns die heutige Naturerkenntnis eine solche Fülle
der wunderbarsten Zweckmäßigkeiten vor Augen, daß es ungemein schwierig ist,
die Vernunft zum Schweigen zu bringen, die den zwecksetzenden und nach Zwecken
waltenden Ordner des Weltalls fordert. Daß jedoch anch dieses Schwierige
geleistet werden kann, das sehen wir ja täglich an Haeckel und seinen Jüngern.




Ferdinand Brunetiere
in. I- Minckwitz von

HM
ZVV> er das Lebenswerk des am 10. Dezember 1906 im achtundfünf¬
zigsten Lebensjahre verstorbnen Schriftstellers Ferdinand Brunetiere
einer genauern Prüfung unterzieht, fühlt sich nicht wenig be¬
troffen von dem Mangel an Einheitlichkeit, der innerhalb dieser
! nicht allzuweit ausgedehnten Lebens- und Arbeitsfrist zutage
tritt. Man wird nicht leicht eine zweite Persönlichkeit nennen können, deren
Ansichten eine gleiche Fülle von Paradoxen und Widersprüchen anhaften. Auch
in Brunetiere ist die ruhige Lebensanschauung, die große Denker früherer
Jahrhunderte auszuzeichnen pflegte, der modernen Unrast zum Opfer gefallen.
Die geistige Hast der Neuzeit zieht leider immer schlimmere Folgen nach sich,
insbesondre verwickelt sie produktive Schriftsteller in Widersprüche, deren
spezieller Ursprung sich oft nicht genau bestimmen läßt. Gewiß spielen dabei nicht
an letzter Stelle auch Gedächtnisfehler mit, die vorübergehender Erschöpfung
zuzuschreiben sind, aber der Nachweis andrer Motive ist doch nur mit großer
Behutsamkeit zu erbringen. Bei Brunetiere bedarf es einer besonders gewissen¬
haften Sichtung auftauchender Probleme, wenn man seine anscheinenden
Schwankungen und Schwenkungen enträtseln will. Handelt es sich bei diesem
rastlos strebenden Forscher doch vor allem nicht um Charakterschwäche oder
um wenig ehrenvolle Zugeständnisse an den krankhaften Ehrgeiz, für dessen
Befriedigung das heutige Frankreich die trefflich ironisierende Bezeichnung
arrivisiQö in Aufnahme gebracht hat. Diesen Vorwurf könnten nicht einmal
die erbitterten Gegner des unermüdlichen Kämpfers erheben. Auch die hoch¬
moderne Form seiner Publikationen ist wohl eher den Verhältnissen als ihm
selbst zur Last zu legen. Vorlesungen, die neue Theorien in akademischen
Kreisen verbreiten sollten, Vorträge, die im Inlande und im Auslande bei
einer zahlreichen, bunt (nicht bloß nach Geschlechtern) gemischten Zuhörerschaft
Anklang fanden, kritische Beurteilungen von wichtigen Neuigkeiten auf dem


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[0139] Ferdinand Brunetiere Anschauungen gebaut werden. Die Entscheidung in der Alternative namentlich, ob man sich die Welt durch Zufall entstanden oder von einem allmächtigen, intelligenten Wesen geschaffen denken soll, hängt nicht von dem Maße oder der Art naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ab, sondern von Herzensbedürfnissen und Neigungen. Allerdings stellt uns die heutige Naturerkenntnis eine solche Fülle der wunderbarsten Zweckmäßigkeiten vor Augen, daß es ungemein schwierig ist, die Vernunft zum Schweigen zu bringen, die den zwecksetzenden und nach Zwecken waltenden Ordner des Weltalls fordert. Daß jedoch anch dieses Schwierige geleistet werden kann, das sehen wir ja täglich an Haeckel und seinen Jüngern. Ferdinand Brunetiere in. I- Minckwitz von HM ZVV> er das Lebenswerk des am 10. Dezember 1906 im achtundfünf¬ zigsten Lebensjahre verstorbnen Schriftstellers Ferdinand Brunetiere einer genauern Prüfung unterzieht, fühlt sich nicht wenig be¬ troffen von dem Mangel an Einheitlichkeit, der innerhalb dieser ! nicht allzuweit ausgedehnten Lebens- und Arbeitsfrist zutage tritt. Man wird nicht leicht eine zweite Persönlichkeit nennen können, deren Ansichten eine gleiche Fülle von Paradoxen und Widersprüchen anhaften. Auch in Brunetiere ist die ruhige Lebensanschauung, die große Denker früherer Jahrhunderte auszuzeichnen pflegte, der modernen Unrast zum Opfer gefallen. Die geistige Hast der Neuzeit zieht leider immer schlimmere Folgen nach sich, insbesondre verwickelt sie produktive Schriftsteller in Widersprüche, deren spezieller Ursprung sich oft nicht genau bestimmen läßt. Gewiß spielen dabei nicht an letzter Stelle auch Gedächtnisfehler mit, die vorübergehender Erschöpfung zuzuschreiben sind, aber der Nachweis andrer Motive ist doch nur mit großer Behutsamkeit zu erbringen. Bei Brunetiere bedarf es einer besonders gewissen¬ haften Sichtung auftauchender Probleme, wenn man seine anscheinenden Schwankungen und Schwenkungen enträtseln will. Handelt es sich bei diesem rastlos strebenden Forscher doch vor allem nicht um Charakterschwäche oder um wenig ehrenvolle Zugeständnisse an den krankhaften Ehrgeiz, für dessen Befriedigung das heutige Frankreich die trefflich ironisierende Bezeichnung arrivisiQö in Aufnahme gebracht hat. Diesen Vorwurf könnten nicht einmal die erbitterten Gegner des unermüdlichen Kämpfers erheben. Auch die hoch¬ moderne Form seiner Publikationen ist wohl eher den Verhältnissen als ihm selbst zur Last zu legen. Vorlesungen, die neue Theorien in akademischen Kreisen verbreiten sollten, Vorträge, die im Inlande und im Auslande bei einer zahlreichen, bunt (nicht bloß nach Geschlechtern) gemischten Zuhörerschaft Anklang fanden, kritische Beurteilungen von wichtigen Neuigkeiten auf dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/139>, abgerufen am 29.04.2024.