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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Der Prediger in Nöten

Eigentümlichkeiten der Erzähler kommen hier in nicht geringem Maße zur Gel¬
tung. Schließlich liegt auch in der kaleidoskopartigen Verknüpfung der einzelnen
Motive, die die Möglichkeit unzähliger Kombinationen erlaubt, eine Zeugungs¬
kraft, die eben jahrtausendelang fortgewirkt hat, und die erst der allem Volks¬
tümlichen feindliche Geist des technischen Zeitalters bei den europäischen Völkern
hat vernichten können.




Der Prediger in Nöten
Thomas Hardy Von(Fortsetzung)

LI^VS^">^is Stockdale eines Morgens eins dem Fenster guckte, sah er Frau
Newberry selbst die Schöße eines langen, flauschigen Überziehers aus¬
bürsten, wenn sein Auge ihn nicht trügte, dasselbe Kleidungsstück, das
den Stuhl in seinem Zimmer geziert hatte. Er war über und über
bis in die Rückenhöhlung hinauf bespritzt mit nachbarlichem Nieder-
I Moyntonschmutz, was man nach der Farbe der vom Sonnenlicht hell
beleuchteten Flecke deutlich unterscheiden konnte. Ein oder zwei Tage lang war nasses
Wetter gewesen, und so war die Schlußfolgerung unwiderleglich, daß der Träger
des Rockes ganz kürzlich eine bedeutende Entfernung über Feld- und Landstraße
zurückgelegt hatte. Stockdale öffnete das Fenster und sah hinaus; Frau Newberry
drehte den Kopf. Ihr Gesicht wurde langsam rot; sie hatte niemals hübscher,
niemals rätselhafter ausgesehen. Er winkte zärtlich mit der Hand und sagte guten
Morgen; sie antwortete voll Verlegenheit, hörte im Augenblick, als sie ihn er¬
blickte, mit ihrer Beschäftigung auf und rollte den Rock, halb gereinigt, zusammen.

Stockdale schloß das Fenster. Zweifellos lag eine einfache Erklärung ihres
Tuns in den Grenzen der Möglichkeit, aber ihm fiel keine ein. Er wünschte, er
hätte den Vorfall dem Bereich der Mutmaßungen entzogen und auf der Stelle eine
Bemerkung darüber gemacht.

Doch obwohl Lizzy im Augenblick keine Erklärung gegeben hatte, brachte sie
die Sache bei ihrer nächsten Begegnung zur Sprache. Sie plauderte mit ihm von
etwas andern: und bemerkte, das sei um die Zeit gewesen, als sie gerade die alten
Kleider, die ihrem armen Mann gehört hatten, reinigte.

Sie halten sie ans Pietät für ihn sauber? fragte Stockdale unsicher.

Ich lüfte und dürfte sie manchmal, sagte sie mit der entzückendsten Unschuld
von der Welt.

Kommen tote Männer ans ihren Gräbern, um im Schmutz spazieren zu gehn?
murmelte der Geistliche, dem bei ihrer Hinterlist der kalte Schweiß ans der
Stirn stand.

Was sagten Sie? fragte Lizzy.

Nichts, nichts, entgegnete er gramvoll. Bloß Worte -- ein Satz, der in
meine Predigt für nächsten Sonntag paßt. Es war nur zu klar, Lizzy wußte nichts
davon, daß er auf den Schößen des verräterischen Überziehers dicke Schmutzspritzer
gesehen hatte, und sie wollte ihn glauben machen, er käme direkt aus einem Schrank
oder einer Schublade.


Der Prediger in Nöten

Eigentümlichkeiten der Erzähler kommen hier in nicht geringem Maße zur Gel¬
tung. Schließlich liegt auch in der kaleidoskopartigen Verknüpfung der einzelnen
Motive, die die Möglichkeit unzähliger Kombinationen erlaubt, eine Zeugungs¬
kraft, die eben jahrtausendelang fortgewirkt hat, und die erst der allem Volks¬
tümlichen feindliche Geist des technischen Zeitalters bei den europäischen Völkern
hat vernichten können.




Der Prediger in Nöten
Thomas Hardy Von(Fortsetzung)

LI^VS^«>^is Stockdale eines Morgens eins dem Fenster guckte, sah er Frau
Newberry selbst die Schöße eines langen, flauschigen Überziehers aus¬
bürsten, wenn sein Auge ihn nicht trügte, dasselbe Kleidungsstück, das
den Stuhl in seinem Zimmer geziert hatte. Er war über und über
bis in die Rückenhöhlung hinauf bespritzt mit nachbarlichem Nieder-
I Moyntonschmutz, was man nach der Farbe der vom Sonnenlicht hell
beleuchteten Flecke deutlich unterscheiden konnte. Ein oder zwei Tage lang war nasses
Wetter gewesen, und so war die Schlußfolgerung unwiderleglich, daß der Träger
des Rockes ganz kürzlich eine bedeutende Entfernung über Feld- und Landstraße
zurückgelegt hatte. Stockdale öffnete das Fenster und sah hinaus; Frau Newberry
drehte den Kopf. Ihr Gesicht wurde langsam rot; sie hatte niemals hübscher,
niemals rätselhafter ausgesehen. Er winkte zärtlich mit der Hand und sagte guten
Morgen; sie antwortete voll Verlegenheit, hörte im Augenblick, als sie ihn er¬
blickte, mit ihrer Beschäftigung auf und rollte den Rock, halb gereinigt, zusammen.

Stockdale schloß das Fenster. Zweifellos lag eine einfache Erklärung ihres
Tuns in den Grenzen der Möglichkeit, aber ihm fiel keine ein. Er wünschte, er
hätte den Vorfall dem Bereich der Mutmaßungen entzogen und auf der Stelle eine
Bemerkung darüber gemacht.

Doch obwohl Lizzy im Augenblick keine Erklärung gegeben hatte, brachte sie
die Sache bei ihrer nächsten Begegnung zur Sprache. Sie plauderte mit ihm von
etwas andern: und bemerkte, das sei um die Zeit gewesen, als sie gerade die alten
Kleider, die ihrem armen Mann gehört hatten, reinigte.

Sie halten sie ans Pietät für ihn sauber? fragte Stockdale unsicher.

Ich lüfte und dürfte sie manchmal, sagte sie mit der entzückendsten Unschuld
von der Welt.

Kommen tote Männer ans ihren Gräbern, um im Schmutz spazieren zu gehn?
murmelte der Geistliche, dem bei ihrer Hinterlist der kalte Schweiß ans der
Stirn stand.

Was sagten Sie? fragte Lizzy.

Nichts, nichts, entgegnete er gramvoll. Bloß Worte — ein Satz, der in
meine Predigt für nächsten Sonntag paßt. Es war nur zu klar, Lizzy wußte nichts
davon, daß er auf den Schößen des verräterischen Überziehers dicke Schmutzspritzer
gesehen hatte, und sie wollte ihn glauben machen, er käme direkt aus einem Schrank
oder einer Schublade.


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[0152] Der Prediger in Nöten Eigentümlichkeiten der Erzähler kommen hier in nicht geringem Maße zur Gel¬ tung. Schließlich liegt auch in der kaleidoskopartigen Verknüpfung der einzelnen Motive, die die Möglichkeit unzähliger Kombinationen erlaubt, eine Zeugungs¬ kraft, die eben jahrtausendelang fortgewirkt hat, und die erst der allem Volks¬ tümlichen feindliche Geist des technischen Zeitalters bei den europäischen Völkern hat vernichten können. Der Prediger in Nöten Thomas Hardy Von(Fortsetzung) LI^VS^«>^is Stockdale eines Morgens eins dem Fenster guckte, sah er Frau Newberry selbst die Schöße eines langen, flauschigen Überziehers aus¬ bürsten, wenn sein Auge ihn nicht trügte, dasselbe Kleidungsstück, das den Stuhl in seinem Zimmer geziert hatte. Er war über und über bis in die Rückenhöhlung hinauf bespritzt mit nachbarlichem Nieder- I Moyntonschmutz, was man nach der Farbe der vom Sonnenlicht hell beleuchteten Flecke deutlich unterscheiden konnte. Ein oder zwei Tage lang war nasses Wetter gewesen, und so war die Schlußfolgerung unwiderleglich, daß der Träger des Rockes ganz kürzlich eine bedeutende Entfernung über Feld- und Landstraße zurückgelegt hatte. Stockdale öffnete das Fenster und sah hinaus; Frau Newberry drehte den Kopf. Ihr Gesicht wurde langsam rot; sie hatte niemals hübscher, niemals rätselhafter ausgesehen. Er winkte zärtlich mit der Hand und sagte guten Morgen; sie antwortete voll Verlegenheit, hörte im Augenblick, als sie ihn er¬ blickte, mit ihrer Beschäftigung auf und rollte den Rock, halb gereinigt, zusammen. Stockdale schloß das Fenster. Zweifellos lag eine einfache Erklärung ihres Tuns in den Grenzen der Möglichkeit, aber ihm fiel keine ein. Er wünschte, er hätte den Vorfall dem Bereich der Mutmaßungen entzogen und auf der Stelle eine Bemerkung darüber gemacht. Doch obwohl Lizzy im Augenblick keine Erklärung gegeben hatte, brachte sie die Sache bei ihrer nächsten Begegnung zur Sprache. Sie plauderte mit ihm von etwas andern: und bemerkte, das sei um die Zeit gewesen, als sie gerade die alten Kleider, die ihrem armen Mann gehört hatten, reinigte. Sie halten sie ans Pietät für ihn sauber? fragte Stockdale unsicher. Ich lüfte und dürfte sie manchmal, sagte sie mit der entzückendsten Unschuld von der Welt. Kommen tote Männer ans ihren Gräbern, um im Schmutz spazieren zu gehn? murmelte der Geistliche, dem bei ihrer Hinterlist der kalte Schweiß ans der Stirn stand. Was sagten Sie? fragte Lizzy. Nichts, nichts, entgegnete er gramvoll. Bloß Worte — ein Satz, der in meine Predigt für nächsten Sonntag paßt. Es war nur zu klar, Lizzy wußte nichts davon, daß er auf den Schößen des verräterischen Überziehers dicke Schmutzspritzer gesehen hatte, und sie wollte ihn glauben machen, er käme direkt aus einem Schrank oder einer Schublade.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/152>, abgerufen am 29.04.2024.