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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

für das primitive Märchen. Es sind ja immer nur Jndividualtngenden, die
ihren Platz im Märchen finden, und so finden wir denn schon in den primitiven
Geschichten die Verwandtenliebe, besonders die Affekte der Kindesliebe, wir
finden die Tugend der Hilfsbereitschaft, der Dankbarkeit, der Geselligkeit in rein
Primitiven Märchen. Zu eigentlicher Entfaltung kommt jedoch die fortschreitende
Ethisterung des Märchens erst in den höhern Entwicklungsstufen.

Hiermit hätten wir denn in flüchtigen Umrissen den Ursprung und die
erste Entwicklung des Märchens bis an die Schwelle der primitiven Zeit dar¬
gestellt. Und in der Tat bieten die entwickeltem Märchen der weiter fort-
geschrittnen Naturvölker alle wesentlichen Grundzüge unsers Volksmärchens im
Kerne wenigstens dar. stofflich: ein Abenteuer oder eine gewisse Reihe von
Abenteuern; dem Wesen nach: Verbindung von Natürlichem und Übernatürlichem
und Anfang einer ethischen Durchdringung; technisch: Sprunghafte Darstellung,
Gruppierung der Handlung um einen einzigen Helden, Verallgemeinerung und
Typisterung, Neigung zum Extrem. In dieser Richtung geht dann die Ent¬
wicklung des Märchens weiter. Der geläuterte Geschmack eines höher gebildeten
Volks vermag sich nicht mehr an endlos langen Erzählungen zu vergnügen.
Unter dem Einfluß der Typisierung erstarren die Motive zu stereotypen Formeln,
der Prozeß der Ethisterung schreitet fort. Sobald das Märchen in die Sphäre
der höhern Kultur tritt, verliert das Wunderbare seinen Wirklichkeitswert. Man
empfindet das Übernatürliche als solches, und die Neigung gibt sich kund, es
zu steigern und zu häufen, und doch andrerseits wieder, um die Illusion fest¬
zuhalten, der Wirklichkeit dadurch anzunähern, daß es, wenn auch nur roh,
motiviert wird. So wird das im Papuamärchen unmotivierte Motiv von den
herausgenommnen Augen im höhern Märchen zum Thema von den gewaltsam
ausgestochnen Augen. Die übernatürlichen Motive des primitiven Glaubens¬
lebens werden Bausteine einer phantastischen Welt, der Märchenwelt, die ihren
eignen Gesetzen unterliegt. Natürlich kommt jetzt auch die Tätigkeit der freien
ungebundnen Phantasie zur Geltung. Gar manche Züge werden frisch und frei
erfunden, andre phantastisch weitergebildet. Die Entwicklung des Märchens geht
Parallel mit der Kulturentwicklung des Volkes. Es nimmt die Einzelheiten
des Kulturschatzes in gewissem Grade in sich auf. Aus den Häuptlingen werden
Könige, aus den Häuptlingssöhnen und -töchtern Prinzen und Prinzessinnen.
Jäger und Fischer kennen schon die primitiven Märchen, dazu kommen Bauern,
Schneider, Schuster, Schmiede als Trüger der Handlung. Sind einmal die
Motive zu festen Formeln erstarrt, so ist damit nicht alles Leben aus dem
Organismus des Märchens entwichen. Eben in diesem Einströmen der Kultur¬
werte, das schließlich das Märchen zu einer literarischen Kunstform, wie in
Arabien und in Indien, erhöhen kann, liegt die Beweglichkeit des innern
Mürchengefüges. In einem Lande wird dasselbe Märchen so, in einem andern,
was die Umkleidung der Handlung anlangt, ganz anders erzählt. Es erhält
eine andre Lokalfarbe. Auch die persönlichen Anschauungen und die individuellen


Zum Ursprung des Märchens

für das primitive Märchen. Es sind ja immer nur Jndividualtngenden, die
ihren Platz im Märchen finden, und so finden wir denn schon in den primitiven
Geschichten die Verwandtenliebe, besonders die Affekte der Kindesliebe, wir
finden die Tugend der Hilfsbereitschaft, der Dankbarkeit, der Geselligkeit in rein
Primitiven Märchen. Zu eigentlicher Entfaltung kommt jedoch die fortschreitende
Ethisterung des Märchens erst in den höhern Entwicklungsstufen.

Hiermit hätten wir denn in flüchtigen Umrissen den Ursprung und die
erste Entwicklung des Märchens bis an die Schwelle der primitiven Zeit dar¬
gestellt. Und in der Tat bieten die entwickeltem Märchen der weiter fort-
geschrittnen Naturvölker alle wesentlichen Grundzüge unsers Volksmärchens im
Kerne wenigstens dar. stofflich: ein Abenteuer oder eine gewisse Reihe von
Abenteuern; dem Wesen nach: Verbindung von Natürlichem und Übernatürlichem
und Anfang einer ethischen Durchdringung; technisch: Sprunghafte Darstellung,
Gruppierung der Handlung um einen einzigen Helden, Verallgemeinerung und
Typisterung, Neigung zum Extrem. In dieser Richtung geht dann die Ent¬
wicklung des Märchens weiter. Der geläuterte Geschmack eines höher gebildeten
Volks vermag sich nicht mehr an endlos langen Erzählungen zu vergnügen.
Unter dem Einfluß der Typisierung erstarren die Motive zu stereotypen Formeln,
der Prozeß der Ethisterung schreitet fort. Sobald das Märchen in die Sphäre
der höhern Kultur tritt, verliert das Wunderbare seinen Wirklichkeitswert. Man
empfindet das Übernatürliche als solches, und die Neigung gibt sich kund, es
zu steigern und zu häufen, und doch andrerseits wieder, um die Illusion fest¬
zuhalten, der Wirklichkeit dadurch anzunähern, daß es, wenn auch nur roh,
motiviert wird. So wird das im Papuamärchen unmotivierte Motiv von den
herausgenommnen Augen im höhern Märchen zum Thema von den gewaltsam
ausgestochnen Augen. Die übernatürlichen Motive des primitiven Glaubens¬
lebens werden Bausteine einer phantastischen Welt, der Märchenwelt, die ihren
eignen Gesetzen unterliegt. Natürlich kommt jetzt auch die Tätigkeit der freien
ungebundnen Phantasie zur Geltung. Gar manche Züge werden frisch und frei
erfunden, andre phantastisch weitergebildet. Die Entwicklung des Märchens geht
Parallel mit der Kulturentwicklung des Volkes. Es nimmt die Einzelheiten
des Kulturschatzes in gewissem Grade in sich auf. Aus den Häuptlingen werden
Könige, aus den Häuptlingssöhnen und -töchtern Prinzen und Prinzessinnen.
Jäger und Fischer kennen schon die primitiven Märchen, dazu kommen Bauern,
Schneider, Schuster, Schmiede als Trüger der Handlung. Sind einmal die
Motive zu festen Formeln erstarrt, so ist damit nicht alles Leben aus dem
Organismus des Märchens entwichen. Eben in diesem Einströmen der Kultur¬
werte, das schließlich das Märchen zu einer literarischen Kunstform, wie in
Arabien und in Indien, erhöhen kann, liegt die Beweglichkeit des innern
Mürchengefüges. In einem Lande wird dasselbe Märchen so, in einem andern,
was die Umkleidung der Handlung anlangt, ganz anders erzählt. Es erhält
eine andre Lokalfarbe. Auch die persönlichen Anschauungen und die individuellen


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[0151] Zum Ursprung des Märchens für das primitive Märchen. Es sind ja immer nur Jndividualtngenden, die ihren Platz im Märchen finden, und so finden wir denn schon in den primitiven Geschichten die Verwandtenliebe, besonders die Affekte der Kindesliebe, wir finden die Tugend der Hilfsbereitschaft, der Dankbarkeit, der Geselligkeit in rein Primitiven Märchen. Zu eigentlicher Entfaltung kommt jedoch die fortschreitende Ethisterung des Märchens erst in den höhern Entwicklungsstufen. Hiermit hätten wir denn in flüchtigen Umrissen den Ursprung und die erste Entwicklung des Märchens bis an die Schwelle der primitiven Zeit dar¬ gestellt. Und in der Tat bieten die entwickeltem Märchen der weiter fort- geschrittnen Naturvölker alle wesentlichen Grundzüge unsers Volksmärchens im Kerne wenigstens dar. stofflich: ein Abenteuer oder eine gewisse Reihe von Abenteuern; dem Wesen nach: Verbindung von Natürlichem und Übernatürlichem und Anfang einer ethischen Durchdringung; technisch: Sprunghafte Darstellung, Gruppierung der Handlung um einen einzigen Helden, Verallgemeinerung und Typisterung, Neigung zum Extrem. In dieser Richtung geht dann die Ent¬ wicklung des Märchens weiter. Der geläuterte Geschmack eines höher gebildeten Volks vermag sich nicht mehr an endlos langen Erzählungen zu vergnügen. Unter dem Einfluß der Typisierung erstarren die Motive zu stereotypen Formeln, der Prozeß der Ethisterung schreitet fort. Sobald das Märchen in die Sphäre der höhern Kultur tritt, verliert das Wunderbare seinen Wirklichkeitswert. Man empfindet das Übernatürliche als solches, und die Neigung gibt sich kund, es zu steigern und zu häufen, und doch andrerseits wieder, um die Illusion fest¬ zuhalten, der Wirklichkeit dadurch anzunähern, daß es, wenn auch nur roh, motiviert wird. So wird das im Papuamärchen unmotivierte Motiv von den herausgenommnen Augen im höhern Märchen zum Thema von den gewaltsam ausgestochnen Augen. Die übernatürlichen Motive des primitiven Glaubens¬ lebens werden Bausteine einer phantastischen Welt, der Märchenwelt, die ihren eignen Gesetzen unterliegt. Natürlich kommt jetzt auch die Tätigkeit der freien ungebundnen Phantasie zur Geltung. Gar manche Züge werden frisch und frei erfunden, andre phantastisch weitergebildet. Die Entwicklung des Märchens geht Parallel mit der Kulturentwicklung des Volkes. Es nimmt die Einzelheiten des Kulturschatzes in gewissem Grade in sich auf. Aus den Häuptlingen werden Könige, aus den Häuptlingssöhnen und -töchtern Prinzen und Prinzessinnen. Jäger und Fischer kennen schon die primitiven Märchen, dazu kommen Bauern, Schneider, Schuster, Schmiede als Trüger der Handlung. Sind einmal die Motive zu festen Formeln erstarrt, so ist damit nicht alles Leben aus dem Organismus des Märchens entwichen. Eben in diesem Einströmen der Kultur¬ werte, das schließlich das Märchen zu einer literarischen Kunstform, wie in Arabien und in Indien, erhöhen kann, liegt die Beweglichkeit des innern Mürchengefüges. In einem Lande wird dasselbe Märchen so, in einem andern, was die Umkleidung der Handlung anlangt, ganz anders erzählt. Es erhält eine andre Lokalfarbe. Auch die persönlichen Anschauungen und die individuellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/151>, abgerufen am 15.05.2024.