Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Ursprung des Märchens

zu begeben oder zu stimmen, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit
Festungshaft von gleicher Dauer bestraft."

Es ist unleugbar, daß der Grundgedanke, auf dem alle diese Privilegien
fußen: eine im Interesse von Volk und Verfassung zu wahrende parlamentarische
"Freiheit", durchaus würdig ist. Es wird aber einem gesunden Konstitutionalis-
mus nie zum Schaden gereichen, wenn einem zügellosen Mißbrauch von Ehren-
Privilegien von vornherein gesetzlich vorgebeugt wird; die Strafrechtsreform wird
auch an dieser überaus bedeutsamen Frage nicht untätig vorübergehn können.




Zum Ursprung des Märchens
Paul Arfert i vonn

lie Frage nach dem Ursprung des Märchens ist noch unbeant¬
wortet geblieben und wird es vermutlich bleiben. Versuchen wir
über die Entstehung des Märchens literarisch und historisch ins
reine zu kommen und verfolgen wir die Märchen bei den cin-
Izelnen Völkern bis auf die frühesten nachweisbaren Aufzeich¬
nungen, so endigen wir immer bei vollständig ausgebildeten Erzählungen, die
auf eine lange vorhergehende Entwicklung, die im Dunkel der vorgeschicht¬
lichen Zeit begraben liegt, zurückweisen. Bei den europäischen Völkern gehn
die direkten Märchenaufzeichnungcn bis in das dreizehnte Jahrhundert zurück,
einzelne typische Mürchenzüge dagegen kann man schon in den mythischen und
heroischen Dichtungen nachweisen, so bei den nordischen Germanen in der
Edda, bei den irischen Kelten gar im sechsten Jahrhundert, jedoch waren diese
Völker damals schon weit entfernt von primitiven Zuständen. Um mehr als
tausend Jahre weiter zurück führt uns das griechische Altertum, wo uns
Herodot im fünften Jahrhundert v. Chr. das bekannte Märchen vom Meister¬
dieb überliefert hat. Aber schon die Odyssee ist voll von Märchenzügen,
während sich in der Ilias Andeutungen über das Jasonmärchen finden. Wir
kommen damit in die Zeit von 1000 bis 900 v. Chr., aber wiederum handelt
es sich hier nicht um primitive Gestaltungen des Märchens.

In die fernsten Zeiten geschichtlicher Dämmerung gelangen wir, wenn
wir die orientalische Überlieferung nach Märchen und Märchenzügen durch¬
forschen. Die älteste bekannte indische Märchensammlung des Orients gehört
dem vierten Jahrhundert n. Chr. an, wie weit aber die einzelnen Märchen in
frühere Zeiten zurückreichen, läßt sich nicht feststellen, wir haben aber insofern
einen Anhalt, als wir wissen, daß im Rigveda einzelne Märchenzüge auf¬
tauchen, damit kommen wir in die Zeit von vor 500 v. Chr., aber immer noch
nicht zu einer Periode mit so ursprünglichen Zustünden, in der man sich die


Zum Ursprung des Märchens

zu begeben oder zu stimmen, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit
Festungshaft von gleicher Dauer bestraft."

Es ist unleugbar, daß der Grundgedanke, auf dem alle diese Privilegien
fußen: eine im Interesse von Volk und Verfassung zu wahrende parlamentarische
„Freiheit", durchaus würdig ist. Es wird aber einem gesunden Konstitutionalis-
mus nie zum Schaden gereichen, wenn einem zügellosen Mißbrauch von Ehren-
Privilegien von vornherein gesetzlich vorgebeugt wird; die Strafrechtsreform wird
auch an dieser überaus bedeutsamen Frage nicht untätig vorübergehn können.




Zum Ursprung des Märchens
Paul Arfert i vonn

lie Frage nach dem Ursprung des Märchens ist noch unbeant¬
wortet geblieben und wird es vermutlich bleiben. Versuchen wir
über die Entstehung des Märchens literarisch und historisch ins
reine zu kommen und verfolgen wir die Märchen bei den cin-
Izelnen Völkern bis auf die frühesten nachweisbaren Aufzeich¬
nungen, so endigen wir immer bei vollständig ausgebildeten Erzählungen, die
auf eine lange vorhergehende Entwicklung, die im Dunkel der vorgeschicht¬
lichen Zeit begraben liegt, zurückweisen. Bei den europäischen Völkern gehn
die direkten Märchenaufzeichnungcn bis in das dreizehnte Jahrhundert zurück,
einzelne typische Mürchenzüge dagegen kann man schon in den mythischen und
heroischen Dichtungen nachweisen, so bei den nordischen Germanen in der
Edda, bei den irischen Kelten gar im sechsten Jahrhundert, jedoch waren diese
Völker damals schon weit entfernt von primitiven Zuständen. Um mehr als
tausend Jahre weiter zurück führt uns das griechische Altertum, wo uns
Herodot im fünften Jahrhundert v. Chr. das bekannte Märchen vom Meister¬
dieb überliefert hat. Aber schon die Odyssee ist voll von Märchenzügen,
während sich in der Ilias Andeutungen über das Jasonmärchen finden. Wir
kommen damit in die Zeit von 1000 bis 900 v. Chr., aber wiederum handelt
es sich hier nicht um primitive Gestaltungen des Märchens.

In die fernsten Zeiten geschichtlicher Dämmerung gelangen wir, wenn
wir die orientalische Überlieferung nach Märchen und Märchenzügen durch¬
forschen. Die älteste bekannte indische Märchensammlung des Orients gehört
dem vierten Jahrhundert n. Chr. an, wie weit aber die einzelnen Märchen in
frühere Zeiten zurückreichen, läßt sich nicht feststellen, wir haben aber insofern
einen Anhalt, als wir wissen, daß im Rigveda einzelne Märchenzüge auf¬
tauchen, damit kommen wir in die Zeit von vor 500 v. Chr., aber immer noch
nicht zu einer Periode mit so ursprünglichen Zustünden, in der man sich die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302732"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum Ursprung des Märchens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_77" prev="#ID_76"> zu begeben oder zu stimmen, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit<lb/>
Festungshaft von gleicher Dauer bestraft."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_78"> Es ist unleugbar, daß der Grundgedanke, auf dem alle diese Privilegien<lb/>
fußen: eine im Interesse von Volk und Verfassung zu wahrende parlamentarische<lb/>
&#x201E;Freiheit", durchaus würdig ist. Es wird aber einem gesunden Konstitutionalis-<lb/>
mus nie zum Schaden gereichen, wenn einem zügellosen Mißbrauch von Ehren-<lb/>
Privilegien von vornherein gesetzlich vorgebeugt wird; die Strafrechtsreform wird<lb/>
auch an dieser überaus bedeutsamen Frage nicht untätig vorübergehn können.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zum Ursprung des Märchens<lb/><note type="byline"> Paul Arfert i</note> vonn</head><lb/>
          <p xml:id="ID_79"> lie Frage nach dem Ursprung des Märchens ist noch unbeant¬<lb/>
wortet geblieben und wird es vermutlich bleiben. Versuchen wir<lb/>
über die Entstehung des Märchens literarisch und historisch ins<lb/>
reine zu kommen und verfolgen wir die Märchen bei den cin-<lb/>
Izelnen Völkern bis auf die frühesten nachweisbaren Aufzeich¬<lb/>
nungen, so endigen wir immer bei vollständig ausgebildeten Erzählungen, die<lb/>
auf eine lange vorhergehende Entwicklung, die im Dunkel der vorgeschicht¬<lb/>
lichen Zeit begraben liegt, zurückweisen. Bei den europäischen Völkern gehn<lb/>
die direkten Märchenaufzeichnungcn bis in das dreizehnte Jahrhundert zurück,<lb/>
einzelne typische Mürchenzüge dagegen kann man schon in den mythischen und<lb/>
heroischen Dichtungen nachweisen, so bei den nordischen Germanen in der<lb/>
Edda, bei den irischen Kelten gar im sechsten Jahrhundert, jedoch waren diese<lb/>
Völker damals schon weit entfernt von primitiven Zuständen. Um mehr als<lb/>
tausend Jahre weiter zurück führt uns das griechische Altertum, wo uns<lb/>
Herodot im fünften Jahrhundert v. Chr. das bekannte Märchen vom Meister¬<lb/>
dieb überliefert hat. Aber schon die Odyssee ist voll von Märchenzügen,<lb/>
während sich in der Ilias Andeutungen über das Jasonmärchen finden. Wir<lb/>
kommen damit in die Zeit von 1000 bis 900 v. Chr., aber wiederum handelt<lb/>
es sich hier nicht um primitive Gestaltungen des Märchens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_80" next="#ID_81"> In die fernsten Zeiten geschichtlicher Dämmerung gelangen wir, wenn<lb/>
wir die orientalische Überlieferung nach Märchen und Märchenzügen durch¬<lb/>
forschen. Die älteste bekannte indische Märchensammlung des Orients gehört<lb/>
dem vierten Jahrhundert n. Chr. an, wie weit aber die einzelnen Märchen in<lb/>
frühere Zeiten zurückreichen, läßt sich nicht feststellen, wir haben aber insofern<lb/>
einen Anhalt, als wir wissen, daß im Rigveda einzelne Märchenzüge auf¬<lb/>
tauchen, damit kommen wir in die Zeit von vor 500 v. Chr., aber immer noch<lb/>
nicht zu einer Periode mit so ursprünglichen Zustünden, in der man sich die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0030] Zum Ursprung des Märchens zu begeben oder zu stimmen, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Festungshaft von gleicher Dauer bestraft." Es ist unleugbar, daß der Grundgedanke, auf dem alle diese Privilegien fußen: eine im Interesse von Volk und Verfassung zu wahrende parlamentarische „Freiheit", durchaus würdig ist. Es wird aber einem gesunden Konstitutionalis- mus nie zum Schaden gereichen, wenn einem zügellosen Mißbrauch von Ehren- Privilegien von vornherein gesetzlich vorgebeugt wird; die Strafrechtsreform wird auch an dieser überaus bedeutsamen Frage nicht untätig vorübergehn können. Zum Ursprung des Märchens Paul Arfert i vonn lie Frage nach dem Ursprung des Märchens ist noch unbeant¬ wortet geblieben und wird es vermutlich bleiben. Versuchen wir über die Entstehung des Märchens literarisch und historisch ins reine zu kommen und verfolgen wir die Märchen bei den cin- Izelnen Völkern bis auf die frühesten nachweisbaren Aufzeich¬ nungen, so endigen wir immer bei vollständig ausgebildeten Erzählungen, die auf eine lange vorhergehende Entwicklung, die im Dunkel der vorgeschicht¬ lichen Zeit begraben liegt, zurückweisen. Bei den europäischen Völkern gehn die direkten Märchenaufzeichnungcn bis in das dreizehnte Jahrhundert zurück, einzelne typische Mürchenzüge dagegen kann man schon in den mythischen und heroischen Dichtungen nachweisen, so bei den nordischen Germanen in der Edda, bei den irischen Kelten gar im sechsten Jahrhundert, jedoch waren diese Völker damals schon weit entfernt von primitiven Zuständen. Um mehr als tausend Jahre weiter zurück führt uns das griechische Altertum, wo uns Herodot im fünften Jahrhundert v. Chr. das bekannte Märchen vom Meister¬ dieb überliefert hat. Aber schon die Odyssee ist voll von Märchenzügen, während sich in der Ilias Andeutungen über das Jasonmärchen finden. Wir kommen damit in die Zeit von 1000 bis 900 v. Chr., aber wiederum handelt es sich hier nicht um primitive Gestaltungen des Märchens. In die fernsten Zeiten geschichtlicher Dämmerung gelangen wir, wenn wir die orientalische Überlieferung nach Märchen und Märchenzügen durch¬ forschen. Die älteste bekannte indische Märchensammlung des Orients gehört dem vierten Jahrhundert n. Chr. an, wie weit aber die einzelnen Märchen in frühere Zeiten zurückreichen, läßt sich nicht feststellen, wir haben aber insofern einen Anhalt, als wir wissen, daß im Rigveda einzelne Märchenzüge auf¬ tauchen, damit kommen wir in die Zeit von vor 500 v. Chr., aber immer noch nicht zu einer Periode mit so ursprünglichen Zustünden, in der man sich die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/30
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/30>, abgerufen am 29.04.2024.