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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Die Privilegien der Reichs- und Tandtagsmitglieder

Neben dem Opfer nun, das die Rechtsordnung in genanntem Privileg
mit Rücksicht auf die konstitutionelle Bildung des Staatswillens gebracht
hat, ist eine Reihe von Privilegien der Abgeordneten gegenüber den Justiz¬
behörden zu nennen, wodurch den Parlamentsmitgliedern eine ungehinderte
Berufstätigkeit gesichert sein soll. Die Mitglieder einer gesetzgebenden Ver¬
sammlung sind wahrend der Sitzungsperiode und ihres Aufenthalts am Ort
der Versammlung an diesem Ort (als Zeugen oder Sachverständige) zu ver¬
nehmen. Außerhalb dieses Ortes sich vernehmen zu lassen, dürfen sie ohne
Genehmigung des Reichstags oder der Kammer nicht genötigt werden (Zivil¬
prozeßordnung Z 382, 402 und Strafprozeßordnung A 49 und 72). Ferner
sind die Abgeordneten befugt, die Berufung zum Amt eines Schöffen oder
Geschwornen oder eines Beisitzers eines Seeamts abzulehnen (Gerichtsverfassung
§ 35 und 85 -- Gesetz betreffend Untersuchung von Seeunfällen vom 27. Juli
1877 Z 10). Als besonders wichtiges kommt zu diesen Privilegien noch die
Exemtion von der Haft. "Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein
Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten
Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer, wenn es bei
Ausübung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird"
(Reichsverfassung, Artikel 31, Absatz 1). Dasselbe Privileg gilt auch mit Bezug
auf die Landtagsmitglieder. Dagegen ist die Eröffnung eines Strafprozesses
gegen sie nur vereinzelt (z. B. in Preußen) von der Genehmigung der Kammer
abhängig gemacht.

Jedoch findet natürlich Artikel 31 auf die Festnahme eines Reichstags¬
mitgliedes oder Landtagsabgeordneten zum Zweck der Vollstreckung einer rechts¬
kräftig erkannten Strafe keine Anwendung. Ferner: "Auf Verlangen des
Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede
Untersuchungs- und Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben"
(Artikel 31, Absatz 3). Dies gilt auch wieder mit für die Landtagsmitglieder.
Derselbe Artikel bestimmt schließlich, daß die Genehmigung des Reichstags (aus¬
zudehnen auch auf die Landtage) bei einer Verhaftung eines Mitgliedes wegen
Schulden erforderlich ist. Bei den Hastprivilegien ist noch zu betonen, daß
sie nach deutschem Recht für die "Sitzungsperiode" gelten, und es besteht Streit
darüber, ob die "Sitzungsperiode" auch während der Vertagungsfrist fortwährt.
Die herrschende Ansicht (z. B. bei Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, Seite 79,
Anmerkung 2) bejaht diese Frage, während die gegenteilige Meinung (besonders
vertreten von Professor Binding, Leipzig) das Privileg gemäß seiner ratio auf
die Zeit der unvertagten Session beschränkt und nur auf die Mitglieder von
Kommissionen, die während der Vertagung arbeiten.

Zum Schluß sei noch eine zugunsten der Mitglieder von gesetzgebenden Ver¬
sammlungen bestehende Schutzvorschrift des Strafgesetzbuchs erwähnt: "Wer ein
Mitglied einer gesetzgebenden Versammlung durch Gewalt oder durch Bedrohung
mit einer strafbaren Handlung verhindert, sich an den Ort der Versammlung


Die Privilegien der Reichs- und Tandtagsmitglieder

Neben dem Opfer nun, das die Rechtsordnung in genanntem Privileg
mit Rücksicht auf die konstitutionelle Bildung des Staatswillens gebracht
hat, ist eine Reihe von Privilegien der Abgeordneten gegenüber den Justiz¬
behörden zu nennen, wodurch den Parlamentsmitgliedern eine ungehinderte
Berufstätigkeit gesichert sein soll. Die Mitglieder einer gesetzgebenden Ver¬
sammlung sind wahrend der Sitzungsperiode und ihres Aufenthalts am Ort
der Versammlung an diesem Ort (als Zeugen oder Sachverständige) zu ver¬
nehmen. Außerhalb dieses Ortes sich vernehmen zu lassen, dürfen sie ohne
Genehmigung des Reichstags oder der Kammer nicht genötigt werden (Zivil¬
prozeßordnung Z 382, 402 und Strafprozeßordnung A 49 und 72). Ferner
sind die Abgeordneten befugt, die Berufung zum Amt eines Schöffen oder
Geschwornen oder eines Beisitzers eines Seeamts abzulehnen (Gerichtsverfassung
§ 35 und 85 — Gesetz betreffend Untersuchung von Seeunfällen vom 27. Juli
1877 Z 10). Als besonders wichtiges kommt zu diesen Privilegien noch die
Exemtion von der Haft. „Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein
Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten
Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer, wenn es bei
Ausübung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird"
(Reichsverfassung, Artikel 31, Absatz 1). Dasselbe Privileg gilt auch mit Bezug
auf die Landtagsmitglieder. Dagegen ist die Eröffnung eines Strafprozesses
gegen sie nur vereinzelt (z. B. in Preußen) von der Genehmigung der Kammer
abhängig gemacht.

Jedoch findet natürlich Artikel 31 auf die Festnahme eines Reichstags¬
mitgliedes oder Landtagsabgeordneten zum Zweck der Vollstreckung einer rechts¬
kräftig erkannten Strafe keine Anwendung. Ferner: „Auf Verlangen des
Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede
Untersuchungs- und Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben"
(Artikel 31, Absatz 3). Dies gilt auch wieder mit für die Landtagsmitglieder.
Derselbe Artikel bestimmt schließlich, daß die Genehmigung des Reichstags (aus¬
zudehnen auch auf die Landtage) bei einer Verhaftung eines Mitgliedes wegen
Schulden erforderlich ist. Bei den Hastprivilegien ist noch zu betonen, daß
sie nach deutschem Recht für die „Sitzungsperiode" gelten, und es besteht Streit
darüber, ob die „Sitzungsperiode" auch während der Vertagungsfrist fortwährt.
Die herrschende Ansicht (z. B. bei Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, Seite 79,
Anmerkung 2) bejaht diese Frage, während die gegenteilige Meinung (besonders
vertreten von Professor Binding, Leipzig) das Privileg gemäß seiner ratio auf
die Zeit der unvertagten Session beschränkt und nur auf die Mitglieder von
Kommissionen, die während der Vertagung arbeiten.

Zum Schluß sei noch eine zugunsten der Mitglieder von gesetzgebenden Ver¬
sammlungen bestehende Schutzvorschrift des Strafgesetzbuchs erwähnt: „Wer ein
Mitglied einer gesetzgebenden Versammlung durch Gewalt oder durch Bedrohung
mit einer strafbaren Handlung verhindert, sich an den Ort der Versammlung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/29>, abgerufen am 14.05.2024.