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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

im Kriege, Liebesabenteuer, Vegegnisse auf der Botenfahrt usw. dar. Leider ver¬
säumen es die Ethnologen und die Forschungsreisenden durchweg, uns mit
diesen für die Erforschung der Erzählungsart und -kunst der Naturmenschen so
überaus wichtigen individuellen Erzeugnissen des Erzählnngstriebes bekannt zu
machen. Eine zweite allgemein verbreitete Gruppe bildet die ätiologische Sage,
durch die der Naturmensch sein Kausalitütsbedürfnis zu befriedigen trachtet.
Hierbei ist zu beachten, daß der Wilde die Fragen, die irgendein Naturereignis
in ihm anregt, nie durch eine kurze Präzise Antwort, sondern immer durch eine
längere oder kürzere Geschichte beantwortet. Eine andre Gruppe bilden die
Stammessagen und die Erzählungen mythologischen Charakters, schließlich das
Märchen.

Alle diese Gattungen sind untereinander verwandt, berühren sich stofflich
vielfach, denn sie beruhn alle ans dem nicht sehr umfassenden Denk- und Er¬
fahrungskreise des Wilden. Will man also näheres über die Entstehung der
einzelnen Erzähluugsarten wissen, so ergibt sich die Notwendigkeit, das Denken
des primitiven Menschen vorher zu untersuchen. Theoretisch genommen müßte
man eigentlich ein genaues Bild des gesamten primitiven Lebens entworfen
haben, ehe man sich daran machen könnte, das Herauswachsen der Märchen¬
erzählungen aus diesem Boden zu ergründen. Man müßte alle sozialen Ein¬
richtungen und Gebräuche -- mindestens soweit sie sich in den Erzählungen
widerspiegeln -- untersucht haben, man müßte das ganze Geistesleben des
Naturmenschen bis auf seine Wurzeln bloßgelegt haben, nämlich seine Denk¬
fähigkeit im allgemeinen, seine Deukäußerungen im besondern, seine Logik, sein
Verhältnis zur Welt der Wirklichkeit; man müßte die einzelnen Seelenkräfte
analysiert haben, besonders die Phantasie; erst wenn wir so eine genaue und
tiefgehende Einsicht in das gesamte primitive Wesen das äußere und das
innere -- gewonnen haben, können wir hoffen, aus dem Leben und Denken des
Wilden die Entstehungsursachen und -bedingungen seiner literarischen Produkte zu
verstehn. Soweit ist die Forschung noch nicht, und hier in den Grenzen dieser
Abhandlung kann es nur darauf ankommen, die Hauptzüge der primitiven
Geistesstruktur, soweit sie zu der Tätigkeit des Erfinders und Erzählens von
Geschichten Beziehung haben, darzulegen. Haben wir festgestellt, wie der Pri¬
mitive denkt, so können wir daraus abnehmen, wie er erzählt, und wissen wir,
welche Grenzen seinem Erzühlnngstriebe gesteckt sind, und uuter welchen Be¬
dingungen er sich äußert, so können wir hoffen, über die einzelnen Elemente,
die das Märchen bilden, Klarheit zu gewinnen, zu ergründen, woher sie stammen,
und wie sie sich verbinden.


2

Zunächst muß festgestellt werden, daß dem Wilden jeder Wirklichkeitssinn
fehlt. Es wird dem Europäer nicht leicht, sich immer vor Augen zu halten,
daß die Wirklichkeit so ziemlich aus dem Denken des Naturmenschen ausge¬
merzt ist. Das Leben und das Denken des Wilden sind eingesponnen in ein


Zum Ursprung des Märchens

im Kriege, Liebesabenteuer, Vegegnisse auf der Botenfahrt usw. dar. Leider ver¬
säumen es die Ethnologen und die Forschungsreisenden durchweg, uns mit
diesen für die Erforschung der Erzählungsart und -kunst der Naturmenschen so
überaus wichtigen individuellen Erzeugnissen des Erzählnngstriebes bekannt zu
machen. Eine zweite allgemein verbreitete Gruppe bildet die ätiologische Sage,
durch die der Naturmensch sein Kausalitütsbedürfnis zu befriedigen trachtet.
Hierbei ist zu beachten, daß der Wilde die Fragen, die irgendein Naturereignis
in ihm anregt, nie durch eine kurze Präzise Antwort, sondern immer durch eine
längere oder kürzere Geschichte beantwortet. Eine andre Gruppe bilden die
Stammessagen und die Erzählungen mythologischen Charakters, schließlich das
Märchen.

Alle diese Gattungen sind untereinander verwandt, berühren sich stofflich
vielfach, denn sie beruhn alle ans dem nicht sehr umfassenden Denk- und Er¬
fahrungskreise des Wilden. Will man also näheres über die Entstehung der
einzelnen Erzähluugsarten wissen, so ergibt sich die Notwendigkeit, das Denken
des primitiven Menschen vorher zu untersuchen. Theoretisch genommen müßte
man eigentlich ein genaues Bild des gesamten primitiven Lebens entworfen
haben, ehe man sich daran machen könnte, das Herauswachsen der Märchen¬
erzählungen aus diesem Boden zu ergründen. Man müßte alle sozialen Ein¬
richtungen und Gebräuche — mindestens soweit sie sich in den Erzählungen
widerspiegeln — untersucht haben, man müßte das ganze Geistesleben des
Naturmenschen bis auf seine Wurzeln bloßgelegt haben, nämlich seine Denk¬
fähigkeit im allgemeinen, seine Deukäußerungen im besondern, seine Logik, sein
Verhältnis zur Welt der Wirklichkeit; man müßte die einzelnen Seelenkräfte
analysiert haben, besonders die Phantasie; erst wenn wir so eine genaue und
tiefgehende Einsicht in das gesamte primitive Wesen das äußere und das
innere — gewonnen haben, können wir hoffen, aus dem Leben und Denken des
Wilden die Entstehungsursachen und -bedingungen seiner literarischen Produkte zu
verstehn. Soweit ist die Forschung noch nicht, und hier in den Grenzen dieser
Abhandlung kann es nur darauf ankommen, die Hauptzüge der primitiven
Geistesstruktur, soweit sie zu der Tätigkeit des Erfinders und Erzählens von
Geschichten Beziehung haben, darzulegen. Haben wir festgestellt, wie der Pri¬
mitive denkt, so können wir daraus abnehmen, wie er erzählt, und wissen wir,
welche Grenzen seinem Erzühlnngstriebe gesteckt sind, und uuter welchen Be¬
dingungen er sich äußert, so können wir hoffen, über die einzelnen Elemente,
die das Märchen bilden, Klarheit zu gewinnen, zu ergründen, woher sie stammen,
und wie sie sich verbinden.


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Zunächst muß festgestellt werden, daß dem Wilden jeder Wirklichkeitssinn
fehlt. Es wird dem Europäer nicht leicht, sich immer vor Augen zu halten,
daß die Wirklichkeit so ziemlich aus dem Denken des Naturmenschen ausge¬
merzt ist. Das Leben und das Denken des Wilden sind eingesponnen in ein


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[0035] Zum Ursprung des Märchens im Kriege, Liebesabenteuer, Vegegnisse auf der Botenfahrt usw. dar. Leider ver¬ säumen es die Ethnologen und die Forschungsreisenden durchweg, uns mit diesen für die Erforschung der Erzählungsart und -kunst der Naturmenschen so überaus wichtigen individuellen Erzeugnissen des Erzählnngstriebes bekannt zu machen. Eine zweite allgemein verbreitete Gruppe bildet die ätiologische Sage, durch die der Naturmensch sein Kausalitütsbedürfnis zu befriedigen trachtet. Hierbei ist zu beachten, daß der Wilde die Fragen, die irgendein Naturereignis in ihm anregt, nie durch eine kurze Präzise Antwort, sondern immer durch eine längere oder kürzere Geschichte beantwortet. Eine andre Gruppe bilden die Stammessagen und die Erzählungen mythologischen Charakters, schließlich das Märchen. Alle diese Gattungen sind untereinander verwandt, berühren sich stofflich vielfach, denn sie beruhn alle ans dem nicht sehr umfassenden Denk- und Er¬ fahrungskreise des Wilden. Will man also näheres über die Entstehung der einzelnen Erzähluugsarten wissen, so ergibt sich die Notwendigkeit, das Denken des primitiven Menschen vorher zu untersuchen. Theoretisch genommen müßte man eigentlich ein genaues Bild des gesamten primitiven Lebens entworfen haben, ehe man sich daran machen könnte, das Herauswachsen der Märchen¬ erzählungen aus diesem Boden zu ergründen. Man müßte alle sozialen Ein¬ richtungen und Gebräuche — mindestens soweit sie sich in den Erzählungen widerspiegeln — untersucht haben, man müßte das ganze Geistesleben des Naturmenschen bis auf seine Wurzeln bloßgelegt haben, nämlich seine Denk¬ fähigkeit im allgemeinen, seine Deukäußerungen im besondern, seine Logik, sein Verhältnis zur Welt der Wirklichkeit; man müßte die einzelnen Seelenkräfte analysiert haben, besonders die Phantasie; erst wenn wir so eine genaue und tiefgehende Einsicht in das gesamte primitive Wesen das äußere und das innere — gewonnen haben, können wir hoffen, aus dem Leben und Denken des Wilden die Entstehungsursachen und -bedingungen seiner literarischen Produkte zu verstehn. Soweit ist die Forschung noch nicht, und hier in den Grenzen dieser Abhandlung kann es nur darauf ankommen, die Hauptzüge der primitiven Geistesstruktur, soweit sie zu der Tätigkeit des Erfinders und Erzählens von Geschichten Beziehung haben, darzulegen. Haben wir festgestellt, wie der Pri¬ mitive denkt, so können wir daraus abnehmen, wie er erzählt, und wissen wir, welche Grenzen seinem Erzühlnngstriebe gesteckt sind, und uuter welchen Be¬ dingungen er sich äußert, so können wir hoffen, über die einzelnen Elemente, die das Märchen bilden, Klarheit zu gewinnen, zu ergründen, woher sie stammen, und wie sie sich verbinden. 2 Zunächst muß festgestellt werden, daß dem Wilden jeder Wirklichkeitssinn fehlt. Es wird dem Europäer nicht leicht, sich immer vor Augen zu halten, daß die Wirklichkeit so ziemlich aus dem Denken des Naturmenschen ausge¬ merzt ist. Das Leben und das Denken des Wilden sind eingesponnen in ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/35>, abgerufen am 28.04.2024.