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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Aus dem dunkeln Kapitel der chinesischen Kultur
Linn Schulz i vonn

E?MOippolyte Taine sagt in seinen geistvollen und von der feinsten
Beobachtungsgabe zeugenden "Aufzeichnungen über England"
(S. 119): "Der Graben, der hier Tugend und Laster voneinander
trennt, ist tief und steil und hat nicht, wie in Frankreich,
Treppen." Hätte dieser große Kulturhistoriker und Verfasser des
"Modernen Frankreich" China kennen gelernt, so würde er über
dieses Land das gleiche Urteil gefüllt haben, soweit die Stellung des Weibes
zur Familie und zur Gesellschaft in Frage kommt. Trotz der nahen Rassen¬
verwandtschaft zwischen Japan und China kann man sich, was die Stellung
des Weibes zum Manne betrifft, kaum einen größern Gegensatz denken als
den zwischen diesen Ländern auf diesem Gebiete. Der Grund hierfür ist ohne
Zweifel in der Morallehre des großen chinesischen Reformators Kong-fuese zu
suchen. Hat Mohammed auch befohlen: "Kein Mann darf das Gericht eines
Weibes sehen, das nicht seine Mutter, Gattin oder Schwester ist", so verbietet
er doch nicht, ein Weib bei Lebensgefahr durch körperliche Berührung zu retten.
Anders urteilt Kong-fuese (700 v. Chr.). Von einem Jünger gefragt, ob es
einem fremden Manne wenigstens erlaubt sei, ein Weib in Todesnot durch
körperliche Berührung, zum Beispiel Darreichung der Hand vor dem Ertrinken
zu retten, antwortete er kurz: "Vielleicht!" ohne auf die ihm offenbar sehr
peinliche Frage weiter einzugehen. Bei einem solchen Stande der Moral ist
es kein Wunder, daß den chinesischen Prostituierten der Stempel der tiefsten
sozialen Erniedrigung und untilgbaren Schmach aufgedrückt ist.

Man sollte nun annehmen, daß es keine oder doch nur geringfügige
Unterschiede zwischen Prostituierten geben könne. Aber auch in China erwies
sich das Bedürfnis der sozial hochstehenden Kreise nach einer bessern Halb¬
welt stärker als Gesetz und Sitte. Freilich zu der gesellschaftlich sogar fest¬
stehenden Stellung, die hervorragende Courtisanen zum Beispiel in Frank¬
reich einnahmen und noch einnehmen, kann es in China auch die gebildetste
und schönste Halbweltlerin niemals bringen. Von dieser höherstehenden Pro¬
stitution will ich im folgenden meine Beobachtungen und Eindrücke schildern,
denn meines Wissens findet man darüber in den Reisewerken und Schriften
über dieses merkwürdige Land und seine jahrtausendealte Kultur sehr wenig
oder gar nichts. Gewiß, Cantons Blumenboote, Schanghais und Tientsins
landläufige Bordelle werden häusiger kurz erwähnt, wofern die Schriftsteller
es nicht vorziehen, dieses überaus interessante Kapitel zur Beurteilung eines
Volkes entweder totzuschweigen oder mit einigen Ausbrüchen ihres moralischen
Gemüts kurz zu erwähnen. Aber das intime Leben der chinesischen Demi¬
monde, ihr Werdegang, ihre Stellung in der Lebewelt und Gesellschaft ist
für die Europäer durchweg eine tsrra inovAiiita geblieben. Auch ich verdanke




Aus dem dunkeln Kapitel der chinesischen Kultur
Linn Schulz i vonn

E?MOippolyte Taine sagt in seinen geistvollen und von der feinsten
Beobachtungsgabe zeugenden „Aufzeichnungen über England"
(S. 119): „Der Graben, der hier Tugend und Laster voneinander
trennt, ist tief und steil und hat nicht, wie in Frankreich,
Treppen." Hätte dieser große Kulturhistoriker und Verfasser des
„Modernen Frankreich" China kennen gelernt, so würde er über
dieses Land das gleiche Urteil gefüllt haben, soweit die Stellung des Weibes
zur Familie und zur Gesellschaft in Frage kommt. Trotz der nahen Rassen¬
verwandtschaft zwischen Japan und China kann man sich, was die Stellung
des Weibes zum Manne betrifft, kaum einen größern Gegensatz denken als
den zwischen diesen Ländern auf diesem Gebiete. Der Grund hierfür ist ohne
Zweifel in der Morallehre des großen chinesischen Reformators Kong-fuese zu
suchen. Hat Mohammed auch befohlen: „Kein Mann darf das Gericht eines
Weibes sehen, das nicht seine Mutter, Gattin oder Schwester ist", so verbietet
er doch nicht, ein Weib bei Lebensgefahr durch körperliche Berührung zu retten.
Anders urteilt Kong-fuese (700 v. Chr.). Von einem Jünger gefragt, ob es
einem fremden Manne wenigstens erlaubt sei, ein Weib in Todesnot durch
körperliche Berührung, zum Beispiel Darreichung der Hand vor dem Ertrinken
zu retten, antwortete er kurz: „Vielleicht!" ohne auf die ihm offenbar sehr
peinliche Frage weiter einzugehen. Bei einem solchen Stande der Moral ist
es kein Wunder, daß den chinesischen Prostituierten der Stempel der tiefsten
sozialen Erniedrigung und untilgbaren Schmach aufgedrückt ist.

Man sollte nun annehmen, daß es keine oder doch nur geringfügige
Unterschiede zwischen Prostituierten geben könne. Aber auch in China erwies
sich das Bedürfnis der sozial hochstehenden Kreise nach einer bessern Halb¬
welt stärker als Gesetz und Sitte. Freilich zu der gesellschaftlich sogar fest¬
stehenden Stellung, die hervorragende Courtisanen zum Beispiel in Frank¬
reich einnahmen und noch einnehmen, kann es in China auch die gebildetste
und schönste Halbweltlerin niemals bringen. Von dieser höherstehenden Pro¬
stitution will ich im folgenden meine Beobachtungen und Eindrücke schildern,
denn meines Wissens findet man darüber in den Reisewerken und Schriften
über dieses merkwürdige Land und seine jahrtausendealte Kultur sehr wenig
oder gar nichts. Gewiß, Cantons Blumenboote, Schanghais und Tientsins
landläufige Bordelle werden häusiger kurz erwähnt, wofern die Schriftsteller
es nicht vorziehen, dieses überaus interessante Kapitel zur Beurteilung eines
Volkes entweder totzuschweigen oder mit einigen Ausbrüchen ihres moralischen
Gemüts kurz zu erwähnen. Aber das intime Leben der chinesischen Demi¬
monde, ihr Werdegang, ihre Stellung in der Lebewelt und Gesellschaft ist
für die Europäer durchweg eine tsrra inovAiiita geblieben. Auch ich verdanke


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[0687] [Abbildung] Aus dem dunkeln Kapitel der chinesischen Kultur Linn Schulz i vonn E?MOippolyte Taine sagt in seinen geistvollen und von der feinsten Beobachtungsgabe zeugenden „Aufzeichnungen über England" (S. 119): „Der Graben, der hier Tugend und Laster voneinander trennt, ist tief und steil und hat nicht, wie in Frankreich, Treppen." Hätte dieser große Kulturhistoriker und Verfasser des „Modernen Frankreich" China kennen gelernt, so würde er über dieses Land das gleiche Urteil gefüllt haben, soweit die Stellung des Weibes zur Familie und zur Gesellschaft in Frage kommt. Trotz der nahen Rassen¬ verwandtschaft zwischen Japan und China kann man sich, was die Stellung des Weibes zum Manne betrifft, kaum einen größern Gegensatz denken als den zwischen diesen Ländern auf diesem Gebiete. Der Grund hierfür ist ohne Zweifel in der Morallehre des großen chinesischen Reformators Kong-fuese zu suchen. Hat Mohammed auch befohlen: „Kein Mann darf das Gericht eines Weibes sehen, das nicht seine Mutter, Gattin oder Schwester ist", so verbietet er doch nicht, ein Weib bei Lebensgefahr durch körperliche Berührung zu retten. Anders urteilt Kong-fuese (700 v. Chr.). Von einem Jünger gefragt, ob es einem fremden Manne wenigstens erlaubt sei, ein Weib in Todesnot durch körperliche Berührung, zum Beispiel Darreichung der Hand vor dem Ertrinken zu retten, antwortete er kurz: „Vielleicht!" ohne auf die ihm offenbar sehr peinliche Frage weiter einzugehen. Bei einem solchen Stande der Moral ist es kein Wunder, daß den chinesischen Prostituierten der Stempel der tiefsten sozialen Erniedrigung und untilgbaren Schmach aufgedrückt ist. Man sollte nun annehmen, daß es keine oder doch nur geringfügige Unterschiede zwischen Prostituierten geben könne. Aber auch in China erwies sich das Bedürfnis der sozial hochstehenden Kreise nach einer bessern Halb¬ welt stärker als Gesetz und Sitte. Freilich zu der gesellschaftlich sogar fest¬ stehenden Stellung, die hervorragende Courtisanen zum Beispiel in Frank¬ reich einnahmen und noch einnehmen, kann es in China auch die gebildetste und schönste Halbweltlerin niemals bringen. Von dieser höherstehenden Pro¬ stitution will ich im folgenden meine Beobachtungen und Eindrücke schildern, denn meines Wissens findet man darüber in den Reisewerken und Schriften über dieses merkwürdige Land und seine jahrtausendealte Kultur sehr wenig oder gar nichts. Gewiß, Cantons Blumenboote, Schanghais und Tientsins landläufige Bordelle werden häusiger kurz erwähnt, wofern die Schriftsteller es nicht vorziehen, dieses überaus interessante Kapitel zur Beurteilung eines Volkes entweder totzuschweigen oder mit einigen Ausbrüchen ihres moralischen Gemüts kurz zu erwähnen. Aber das intime Leben der chinesischen Demi¬ monde, ihr Werdegang, ihre Stellung in der Lebewelt und Gesellschaft ist für die Europäer durchweg eine tsrra inovAiiita geblieben. Auch ich verdanke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/687>, abgerufen am 28.04.2024.