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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

so sagte Goethe, pflegte mir immer das Studium der Kantischen Philosophie
zu widerraten: Kant könne mir nichts geben. Er selbst dagegen studierte ihn
eifrig, und ich habe ihn auch studiert, und zwar nicht ohne Gewinn."

Vervollständigt wird das Bild Kant--Schiller--Goethe durch die Darstellung
der freilich dürftigen persönlichen Beziehungen beider Dichter zu dem Philo¬
sophen und dessen, was sie ihm waren oder vielmehr nicht waren. Dem großen
Kunsttheoretiker fehlte es an poetischem Gefühl. Er hat unsre beiden Dichter¬
heroen nicht geschätzt. Goethe wußte, daß Kant nie Notiz von ihm genommen
hat. Er, der so tief in das Wesen des dichterischen Genies eingedrungen ist,
der das Fundament der klassischen Ästhetik gelegt hat, der unsre großen Dichter
nachlebten, wurde den beiden Männern nicht gerecht! Ihre Werke erschienen,
als ihn selbst die eigne Geistesarbeit in Anspruch nahm und später die Schwäche
des Alters befiel. Es hat etwas Tragisches, daß ihm der Genuß an ihren
Schöpfungen versagt blieb, daß er die Genugtuung nicht empfand, zu deren
Reife beigetragen zu haben. Er hat sie kaum gekannt, noch weniger gewürdigt.

Vorlünders Werk ist ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der Literatur
sowohl als der Philosophie in der bedeutungsvollsten Periode deutschen Geistes¬
lebens. Die Form, in die er seine Forschungen gegossen hat, macht sie nicht nur
zu einem Besitz der Gelehrten, sondern die weitesten Kreise der Gebildeten können
sich ihrer erfreuen und aus ihnen genußvolle Belehrung schöpfen.


Alfred Leicht


ZUM Ursprung des Märchens
Paul Arfert i vonn

-H^i>>^
MMin die Tatsache, daß die redenden Tiere des Märchens unmittel¬
bar auf die Anschauungen und das Verhältnis des primitiven
Menschen zu den Tieren zurückgehen, brauchen wir nicht die wissen¬
schaftliche Forschung hcrbeizuziehn. Darüber wird sich jeder, der
uur eine bessere Reisebeschreibung gelesen hat, ohne Mühe selbst
überzeugen können. Verborgner liegen jedoch die Beziehungen auf andern Ge¬
bieten des primitiven Glaubens.

Die älteste Religionsform des Menschen ist der Seclenglaube, wenn wir
von dem sicher voranimistischen Zauberglauben absehen. Der Seelenglaube
durchdringt und bestimmt das ganze Leben und Denken des primitiven Menschen.
Es ist deshalb kein Wunder, daß ein sehr starker Bruchteil des Übernatürlichen
im Märchen mit dem primitiven Seelenglauben in direktem Zusammenhang steht.
Viele Märchenzüge haben sich unmittelbar aus ihm entwickelt. Der Natur¬
mensch denkt sich die Seele gern als ein spannlanges Männchen, das leibhaftige


Zum Ursprung des Märchens

so sagte Goethe, pflegte mir immer das Studium der Kantischen Philosophie
zu widerraten: Kant könne mir nichts geben. Er selbst dagegen studierte ihn
eifrig, und ich habe ihn auch studiert, und zwar nicht ohne Gewinn."

Vervollständigt wird das Bild Kant—Schiller—Goethe durch die Darstellung
der freilich dürftigen persönlichen Beziehungen beider Dichter zu dem Philo¬
sophen und dessen, was sie ihm waren oder vielmehr nicht waren. Dem großen
Kunsttheoretiker fehlte es an poetischem Gefühl. Er hat unsre beiden Dichter¬
heroen nicht geschätzt. Goethe wußte, daß Kant nie Notiz von ihm genommen
hat. Er, der so tief in das Wesen des dichterischen Genies eingedrungen ist,
der das Fundament der klassischen Ästhetik gelegt hat, der unsre großen Dichter
nachlebten, wurde den beiden Männern nicht gerecht! Ihre Werke erschienen,
als ihn selbst die eigne Geistesarbeit in Anspruch nahm und später die Schwäche
des Alters befiel. Es hat etwas Tragisches, daß ihm der Genuß an ihren
Schöpfungen versagt blieb, daß er die Genugtuung nicht empfand, zu deren
Reife beigetragen zu haben. Er hat sie kaum gekannt, noch weniger gewürdigt.

Vorlünders Werk ist ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der Literatur
sowohl als der Philosophie in der bedeutungsvollsten Periode deutschen Geistes¬
lebens. Die Form, in die er seine Forschungen gegossen hat, macht sie nicht nur
zu einem Besitz der Gelehrten, sondern die weitesten Kreise der Gebildeten können
sich ihrer erfreuen und aus ihnen genußvolle Belehrung schöpfen.


Alfred Leicht


ZUM Ursprung des Märchens
Paul Arfert i vonn

-H^i>>^
MMin die Tatsache, daß die redenden Tiere des Märchens unmittel¬
bar auf die Anschauungen und das Verhältnis des primitiven
Menschen zu den Tieren zurückgehen, brauchen wir nicht die wissen¬
schaftliche Forschung hcrbeizuziehn. Darüber wird sich jeder, der
uur eine bessere Reisebeschreibung gelesen hat, ohne Mühe selbst
überzeugen können. Verborgner liegen jedoch die Beziehungen auf andern Ge¬
bieten des primitiven Glaubens.

Die älteste Religionsform des Menschen ist der Seclenglaube, wenn wir
von dem sicher voranimistischen Zauberglauben absehen. Der Seelenglaube
durchdringt und bestimmt das ganze Leben und Denken des primitiven Menschen.
Es ist deshalb kein Wunder, daß ein sehr starker Bruchteil des Übernatürlichen
im Märchen mit dem primitiven Seelenglauben in direktem Zusammenhang steht.
Viele Märchenzüge haben sich unmittelbar aus ihm entwickelt. Der Natur¬
mensch denkt sich die Seele gern als ein spannlanges Männchen, das leibhaftige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/84>, abgerufen am 29.04.2024.