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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

aber verkleinerte und verfeinerte Ebenbild des Menschen. Weil es nun ein
Grunddogma der natürlichen Religion ist, daß sich die Seele frei von dem
Körper lösen und ungebunden umherschweifen könne, wann es ihr beliebt, be¬
sonders aber im Schlaf, so fabelte man wohl schon früh von den Erlebnissen
des winzigen Seelenmännchens außerhalb des Gefängnisses des Leibes. Hier
haben wir die Wurzel der Däumlingsmärchen. Man dachte sich auch die Seele
als Vogel, frei in der Natur umherfliegend. Das ist die Erklärung für den
hilfreichen Vogel auf dem Baume, der aus dem Grabe der Mutter wächst
(Aschenbrödel). Dieses Vögelchen ist nichts andres als die Seele der toten
rechten Mutter. In dem Märchenkreise von der untergeschobnen Braut erscheint
die getötete rechte Braut als Ente in der Küche, denn die Seele hatte im
Augenblick des Todes den Leib als Vogel verlassen. Ebenso weit verbreitet
ist der Glaube, daß die Seele Schlangengestalt hat. Wir werden dabei an das
Motiv erinnert, daß ein Kind zusammen mit der am Herde gehegten und mit
Milch gefütterten Hausschlange aufwächst. Verläßt diese das Haus oder stirbt
sie gar, dann welkt das Kind dahin.

Das Dogma von der außerkörperlichen Seele hat auch dem schönen
Mürchenzuge das Leben gegeben, wonach das Leben des ausziehenden Helden
an das Wachstum und Gedeihen eines Baumes geknüpft ist, oder einem andern
Motive, wonach die getötete oder die verwandelte Braut als Blume in das
Zimmer des Helden gebracht wird, und wie sie alltäglich zu bestimmter Stunde
aus der Blume in wahrer Gestalt schlüpft, das Zimmer reinigt und ordnet
oder von den aufgetragnen Speisen nippt.

Die Seele oder ein Teil davon manifestiert sich auch in gewissen Teilen
des Körpers, so vor allem in den Haaren. Hier ist die Wurzel des bekannten
Simsonthemas. Der Held verliert alle Kraft, sobald ihm die Haare geschoren
werden. Auch im Speichel ruht ein Teil der Seelenkraft, darum weiß ein
gewiß uralter Märchenzug von dem Speichel zu erzählen, den die aus der Haft
des Zauberers entfliehende Heldin auf der Schwelle zurückläßt, damit er für sie
antworte. Blut aber ist ein ganz besondrer Saft. In ihm ruht die Seelen¬
kraft unmittelbar, denn mit dem ausströmenden Blute fließt auch das Leben aus
dem Leibe. Wie das Blut deshalb die Quelle von außerordentlich mannig¬
faltigem Aberglauben geworden ist, so auch von vielen Erzählungsmotiven. Die
Mutter gibt dem in die Fremde reisenden Kinde drei Blutstropfen mit, die so
unmittelbar die schützende Macht der Mutterseele mit sich führen, daß sie in
Augenblicken der Gefahr zu reden und zu warnen beginnen. (Jalada oder die
Gänsemagd.) Der Wilde sieht nichts Ungereimtes darin, daß ein Mensch im¬
stande sein kann, seine Seele aus dem Leibe zu ziehn (der Sinn des Totem-
glaubens ist wahrscheinlich der, daß bei deu Weihen der Kandidat seine Seele
aus dem Körper nimmt und sie in den Leib des Totemtieres überleitet, dafür
aber die Seele des Tieres in sich aufnimmt), um sie irgendwo sicher aufzu¬
bewahren So erklärt sich das über die ganze Erde verbreitete Motiv von der


Grenzboten III 1907 11
Zum Ursprung des Märchens

aber verkleinerte und verfeinerte Ebenbild des Menschen. Weil es nun ein
Grunddogma der natürlichen Religion ist, daß sich die Seele frei von dem
Körper lösen und ungebunden umherschweifen könne, wann es ihr beliebt, be¬
sonders aber im Schlaf, so fabelte man wohl schon früh von den Erlebnissen
des winzigen Seelenmännchens außerhalb des Gefängnisses des Leibes. Hier
haben wir die Wurzel der Däumlingsmärchen. Man dachte sich auch die Seele
als Vogel, frei in der Natur umherfliegend. Das ist die Erklärung für den
hilfreichen Vogel auf dem Baume, der aus dem Grabe der Mutter wächst
(Aschenbrödel). Dieses Vögelchen ist nichts andres als die Seele der toten
rechten Mutter. In dem Märchenkreise von der untergeschobnen Braut erscheint
die getötete rechte Braut als Ente in der Küche, denn die Seele hatte im
Augenblick des Todes den Leib als Vogel verlassen. Ebenso weit verbreitet
ist der Glaube, daß die Seele Schlangengestalt hat. Wir werden dabei an das
Motiv erinnert, daß ein Kind zusammen mit der am Herde gehegten und mit
Milch gefütterten Hausschlange aufwächst. Verläßt diese das Haus oder stirbt
sie gar, dann welkt das Kind dahin.

Das Dogma von der außerkörperlichen Seele hat auch dem schönen
Mürchenzuge das Leben gegeben, wonach das Leben des ausziehenden Helden
an das Wachstum und Gedeihen eines Baumes geknüpft ist, oder einem andern
Motive, wonach die getötete oder die verwandelte Braut als Blume in das
Zimmer des Helden gebracht wird, und wie sie alltäglich zu bestimmter Stunde
aus der Blume in wahrer Gestalt schlüpft, das Zimmer reinigt und ordnet
oder von den aufgetragnen Speisen nippt.

Die Seele oder ein Teil davon manifestiert sich auch in gewissen Teilen
des Körpers, so vor allem in den Haaren. Hier ist die Wurzel des bekannten
Simsonthemas. Der Held verliert alle Kraft, sobald ihm die Haare geschoren
werden. Auch im Speichel ruht ein Teil der Seelenkraft, darum weiß ein
gewiß uralter Märchenzug von dem Speichel zu erzählen, den die aus der Haft
des Zauberers entfliehende Heldin auf der Schwelle zurückläßt, damit er für sie
antworte. Blut aber ist ein ganz besondrer Saft. In ihm ruht die Seelen¬
kraft unmittelbar, denn mit dem ausströmenden Blute fließt auch das Leben aus
dem Leibe. Wie das Blut deshalb die Quelle von außerordentlich mannig¬
faltigem Aberglauben geworden ist, so auch von vielen Erzählungsmotiven. Die
Mutter gibt dem in die Fremde reisenden Kinde drei Blutstropfen mit, die so
unmittelbar die schützende Macht der Mutterseele mit sich führen, daß sie in
Augenblicken der Gefahr zu reden und zu warnen beginnen. (Jalada oder die
Gänsemagd.) Der Wilde sieht nichts Ungereimtes darin, daß ein Mensch im¬
stande sein kann, seine Seele aus dem Leibe zu ziehn (der Sinn des Totem-
glaubens ist wahrscheinlich der, daß bei deu Weihen der Kandidat seine Seele
aus dem Körper nimmt und sie in den Leib des Totemtieres überleitet, dafür
aber die Seele des Tieres in sich aufnimmt), um sie irgendwo sicher aufzu¬
bewahren So erklärt sich das über die ganze Erde verbreitete Motiv von der


Grenzboten III 1907 11
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/85>, abgerufen am 14.05.2024.