Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Einige Tage im Gebiet Ferghana

Mythologie der Polynesier kehrt bei den tieferstehenden Melanesiern in märchen¬
hafter Form wieder. Ja es ist nicht ausgeschlossen, daß Märchen in neuerer
Zeit entstanden sind. Ein besonders begabter, erfindungsreicher Mann mag auf
Grund der vorhandnen Mürchenbestandteile ein wesentlich neues, kunstreiches
Geschichtchen zusammengedacht haben, das dann seinen Weg durch die Welt
angetreten hat. Aber im Prinzip muß an der -- jetzt übrigens von den meisten
Märchenforschern anerkannten -- Tatsache festgehalten werden, daß die Märchen
in ihren Wurzeln und Keimen ein Erzeugnis der primitiven Vorzeit sind. Ich
betone jedoch uoch einmal, daß wir uns diese märchenhaften Urgeschichten nicht
als fertige kunstvolle Mürchenerzählungen vorstellen dürfen, sondern als kürzere
oder längere Geschichten mit mehr oder minder bedeutendem mythisch-religiösem
Einschlag, Rudimente, aus denen sich später kunstgerechtere Formen der Er¬
zählungskunst entwickelten. Und hier liegt nun die eigentliche Schwierigkeit des
Problems. Wir haben einerseits fertige ausgebildete Erzählungen vor uns
mit durchaus spezifischem Charakter, unsre Volksmärchen; andrerseits können
wir die Anfänge dieser Erzählungsgattung aus den primitiven Einzelheiten, die
in unsern Märchen klar zutage liegen, erschließen, über das aber, was dazwischen
liegt, über die lange, lange Zeit der Entwicklung, die unsre Volksmärchen von
den Erzählungskeimen der Urzeit trennt, wissen wir nichts.




Einige Tage im Gebiet Ferghana
H. Toepfer Reiseerinnerungen von

in Vier Uhr Nachmittags führte uns der Zug aus der Station
Ssamarkcmd heraus unter der Höhe mit dem Denkmal der Schlacht
am 13. Mai 1368 entlang, dann über den tief eingewühlten Haupt-
aryk Obi-Ssiab hinweg, dessen mehrere Meter hohe senkrechte
Ränder die Schichtung des Lößbodens überraschend deutlich zeigen.
Bald erreichten wir den Serafschan, in dessen felsigen Talrand die
Bahn eingeschnitten ist. Ein eigentümliches Bauwerk ist die sogenannte Brücke
des Tamerlan; es stammt aus der Zeit der Scheibaniden, steht, zum Teil er¬
halten, mit zwei rechtwinklig zueinander angesetzten Gewölbebogen im Flusse:
man hält es für die Reste eines die Strömung und die Wasserabgabe regu¬
lierenden Wasserwerks. Bald dahinter überschreitet unser Zug die auch für
Fuhrwerk brauchbare Brücke über den Serafschan und steigt allmählich zum
Ssansar hinan, der in einer Höhe von 860 Metern über dem Meere über¬
stiegen wird. Jenseits Miljutinstaja tritt der Schienenweg in das Tal des
Ssansar und windet sich durch das Tor des Tamerlan, eine Felsenenge, in
deren einer Wand über zwei prahlenden arabischen Inschriften auf kupferner
Tafel der russische Doppeladler prangt und die wenigen Worte:


Nikolai II. befahl im Jahre 1895: Die Eisenbahn wird gebaut.
Im Jahre 1398 war sein Wille zur Tat geworden --

die Selbstherrlichkeit des Zaren vor Augen zu führen haben.


Einige Tage im Gebiet Ferghana

Mythologie der Polynesier kehrt bei den tieferstehenden Melanesiern in märchen¬
hafter Form wieder. Ja es ist nicht ausgeschlossen, daß Märchen in neuerer
Zeit entstanden sind. Ein besonders begabter, erfindungsreicher Mann mag auf
Grund der vorhandnen Mürchenbestandteile ein wesentlich neues, kunstreiches
Geschichtchen zusammengedacht haben, das dann seinen Weg durch die Welt
angetreten hat. Aber im Prinzip muß an der — jetzt übrigens von den meisten
Märchenforschern anerkannten — Tatsache festgehalten werden, daß die Märchen
in ihren Wurzeln und Keimen ein Erzeugnis der primitiven Vorzeit sind. Ich
betone jedoch uoch einmal, daß wir uns diese märchenhaften Urgeschichten nicht
als fertige kunstvolle Mürchenerzählungen vorstellen dürfen, sondern als kürzere
oder längere Geschichten mit mehr oder minder bedeutendem mythisch-religiösem
Einschlag, Rudimente, aus denen sich später kunstgerechtere Formen der Er¬
zählungskunst entwickelten. Und hier liegt nun die eigentliche Schwierigkeit des
Problems. Wir haben einerseits fertige ausgebildete Erzählungen vor uns
mit durchaus spezifischem Charakter, unsre Volksmärchen; andrerseits können
wir die Anfänge dieser Erzählungsgattung aus den primitiven Einzelheiten, die
in unsern Märchen klar zutage liegen, erschließen, über das aber, was dazwischen
liegt, über die lange, lange Zeit der Entwicklung, die unsre Volksmärchen von
den Erzählungskeimen der Urzeit trennt, wissen wir nichts.




Einige Tage im Gebiet Ferghana
H. Toepfer Reiseerinnerungen von

in Vier Uhr Nachmittags führte uns der Zug aus der Station
Ssamarkcmd heraus unter der Höhe mit dem Denkmal der Schlacht
am 13. Mai 1368 entlang, dann über den tief eingewühlten Haupt-
aryk Obi-Ssiab hinweg, dessen mehrere Meter hohe senkrechte
Ränder die Schichtung des Lößbodens überraschend deutlich zeigen.
Bald erreichten wir den Serafschan, in dessen felsigen Talrand die
Bahn eingeschnitten ist. Ein eigentümliches Bauwerk ist die sogenannte Brücke
des Tamerlan; es stammt aus der Zeit der Scheibaniden, steht, zum Teil er¬
halten, mit zwei rechtwinklig zueinander angesetzten Gewölbebogen im Flusse:
man hält es für die Reste eines die Strömung und die Wasserabgabe regu¬
lierenden Wasserwerks. Bald dahinter überschreitet unser Zug die auch für
Fuhrwerk brauchbare Brücke über den Serafschan und steigt allmählich zum
Ssansar hinan, der in einer Höhe von 860 Metern über dem Meere über¬
stiegen wird. Jenseits Miljutinstaja tritt der Schienenweg in das Tal des
Ssansar und windet sich durch das Tor des Tamerlan, eine Felsenenge, in
deren einer Wand über zwei prahlenden arabischen Inschriften auf kupferner
Tafel der russische Doppeladler prangt und die wenigen Worte:


Nikolai II. befahl im Jahre 1895: Die Eisenbahn wird gebaut.
Im Jahre 1398 war sein Wille zur Tat geworden —

die Selbstherrlichkeit des Zaren vor Augen zu führen haben.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302794"/>
          <fw type="header" place="top"> Einige Tage im Gebiet Ferghana</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_325" prev="#ID_324"> Mythologie der Polynesier kehrt bei den tieferstehenden Melanesiern in märchen¬<lb/>
hafter Form wieder. Ja es ist nicht ausgeschlossen, daß Märchen in neuerer<lb/>
Zeit entstanden sind. Ein besonders begabter, erfindungsreicher Mann mag auf<lb/>
Grund der vorhandnen Mürchenbestandteile ein wesentlich neues, kunstreiches<lb/>
Geschichtchen zusammengedacht haben, das dann seinen Weg durch die Welt<lb/>
angetreten hat. Aber im Prinzip muß an der &#x2014; jetzt übrigens von den meisten<lb/>
Märchenforschern anerkannten &#x2014; Tatsache festgehalten werden, daß die Märchen<lb/>
in ihren Wurzeln und Keimen ein Erzeugnis der primitiven Vorzeit sind. Ich<lb/>
betone jedoch uoch einmal, daß wir uns diese märchenhaften Urgeschichten nicht<lb/>
als fertige kunstvolle Mürchenerzählungen vorstellen dürfen, sondern als kürzere<lb/>
oder längere Geschichten mit mehr oder minder bedeutendem mythisch-religiösem<lb/>
Einschlag, Rudimente, aus denen sich später kunstgerechtere Formen der Er¬<lb/>
zählungskunst entwickelten. Und hier liegt nun die eigentliche Schwierigkeit des<lb/>
Problems. Wir haben einerseits fertige ausgebildete Erzählungen vor uns<lb/>
mit durchaus spezifischem Charakter, unsre Volksmärchen; andrerseits können<lb/>
wir die Anfänge dieser Erzählungsgattung aus den primitiven Einzelheiten, die<lb/>
in unsern Märchen klar zutage liegen, erschließen, über das aber, was dazwischen<lb/>
liegt, über die lange, lange Zeit der Entwicklung, die unsre Volksmärchen von<lb/>
den Erzählungskeimen der Urzeit trennt, wissen wir nichts.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Einige Tage im Gebiet Ferghana<lb/><note type="byline"> H. Toepfer</note> Reiseerinnerungen von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_326"> in Vier Uhr Nachmittags führte uns der Zug aus der Station<lb/>
Ssamarkcmd heraus unter der Höhe mit dem Denkmal der Schlacht<lb/>
am 13. Mai 1368 entlang, dann über den tief eingewühlten Haupt-<lb/>
aryk Obi-Ssiab hinweg, dessen mehrere Meter hohe senkrechte<lb/>
Ränder die Schichtung des Lößbodens überraschend deutlich zeigen.<lb/>
Bald erreichten wir den Serafschan, in dessen felsigen Talrand die<lb/>
Bahn eingeschnitten ist. Ein eigentümliches Bauwerk ist die sogenannte Brücke<lb/>
des Tamerlan; es stammt aus der Zeit der Scheibaniden, steht, zum Teil er¬<lb/>
halten, mit zwei rechtwinklig zueinander angesetzten Gewölbebogen im Flusse:<lb/>
man hält es für die Reste eines die Strömung und die Wasserabgabe regu¬<lb/>
lierenden Wasserwerks. Bald dahinter überschreitet unser Zug die auch für<lb/>
Fuhrwerk brauchbare Brücke über den Serafschan und steigt allmählich zum<lb/>
Ssansar hinan, der in einer Höhe von 860 Metern über dem Meere über¬<lb/>
stiegen wird. Jenseits Miljutinstaja tritt der Schienenweg in das Tal des<lb/>
Ssansar und windet sich durch das Tor des Tamerlan, eine Felsenenge, in<lb/>
deren einer Wand über zwei prahlenden arabischen Inschriften auf kupferner<lb/>
Tafel der russische Doppeladler prangt und die wenigen Worte:</p><lb/>
          <quote> Nikolai II. befahl im Jahre 1895: Die Eisenbahn wird gebaut.<lb/>
Im Jahre 1398 war sein Wille zur Tat geworden &#x2014;</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_327"> die Selbstherrlichkeit des Zaren vor Augen zu führen haben.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0092] Einige Tage im Gebiet Ferghana Mythologie der Polynesier kehrt bei den tieferstehenden Melanesiern in märchen¬ hafter Form wieder. Ja es ist nicht ausgeschlossen, daß Märchen in neuerer Zeit entstanden sind. Ein besonders begabter, erfindungsreicher Mann mag auf Grund der vorhandnen Mürchenbestandteile ein wesentlich neues, kunstreiches Geschichtchen zusammengedacht haben, das dann seinen Weg durch die Welt angetreten hat. Aber im Prinzip muß an der — jetzt übrigens von den meisten Märchenforschern anerkannten — Tatsache festgehalten werden, daß die Märchen in ihren Wurzeln und Keimen ein Erzeugnis der primitiven Vorzeit sind. Ich betone jedoch uoch einmal, daß wir uns diese märchenhaften Urgeschichten nicht als fertige kunstvolle Mürchenerzählungen vorstellen dürfen, sondern als kürzere oder längere Geschichten mit mehr oder minder bedeutendem mythisch-religiösem Einschlag, Rudimente, aus denen sich später kunstgerechtere Formen der Er¬ zählungskunst entwickelten. Und hier liegt nun die eigentliche Schwierigkeit des Problems. Wir haben einerseits fertige ausgebildete Erzählungen vor uns mit durchaus spezifischem Charakter, unsre Volksmärchen; andrerseits können wir die Anfänge dieser Erzählungsgattung aus den primitiven Einzelheiten, die in unsern Märchen klar zutage liegen, erschließen, über das aber, was dazwischen liegt, über die lange, lange Zeit der Entwicklung, die unsre Volksmärchen von den Erzählungskeimen der Urzeit trennt, wissen wir nichts. Einige Tage im Gebiet Ferghana H. Toepfer Reiseerinnerungen von in Vier Uhr Nachmittags führte uns der Zug aus der Station Ssamarkcmd heraus unter der Höhe mit dem Denkmal der Schlacht am 13. Mai 1368 entlang, dann über den tief eingewühlten Haupt- aryk Obi-Ssiab hinweg, dessen mehrere Meter hohe senkrechte Ränder die Schichtung des Lößbodens überraschend deutlich zeigen. Bald erreichten wir den Serafschan, in dessen felsigen Talrand die Bahn eingeschnitten ist. Ein eigentümliches Bauwerk ist die sogenannte Brücke des Tamerlan; es stammt aus der Zeit der Scheibaniden, steht, zum Teil er¬ halten, mit zwei rechtwinklig zueinander angesetzten Gewölbebogen im Flusse: man hält es für die Reste eines die Strömung und die Wasserabgabe regu¬ lierenden Wasserwerks. Bald dahinter überschreitet unser Zug die auch für Fuhrwerk brauchbare Brücke über den Serafschan und steigt allmählich zum Ssansar hinan, der in einer Höhe von 860 Metern über dem Meere über¬ stiegen wird. Jenseits Miljutinstaja tritt der Schienenweg in das Tal des Ssansar und windet sich durch das Tor des Tamerlan, eine Felsenenge, in deren einer Wand über zwei prahlenden arabischen Inschriften auf kupferner Tafel der russische Doppeladler prangt und die wenigen Worte: Nikolai II. befahl im Jahre 1895: Die Eisenbahn wird gebaut. Im Jahre 1398 war sein Wille zur Tat geworden — die Selbstherrlichkeit des Zaren vor Augen zu führen haben.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/92
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/92>, abgerufen am 28.04.2024.