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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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T>le kleine graue Katze
Ingeborg Maria Sick von (Fortsetzung)

Ekencis, 25. September


Liebe Wanda!

o, mein Brief hat dich wütend gemacht? Und ich sei blind wie ein
Maulwurf mir selbst gegenüber. Und in der Liebe sei ich von jeher
ein echtes Weib gewesen und werde das immer bleiben, schlecht und
recht, und sonst nichts im Himmel und auf Erden.

Ja, das heißt, du hast entschieden, daß es so sei.

Du schreibst, ich dürfe um alles in der Welt nicht hingehn und
mich der Gruppe der Frauenrechtlerinnen anschließen. Jawohl, ich verstehe dich,
aber wenn du die Vorkämpferinnen des Stimmrechts darunter meinst, dann wisse,
daß ich mit diesen vollständig übereinstimme.

Im übrigen bin ich zuerst und zuletzt nur ich selbst -- nämlich meine eigne
Gruppe und brauche mich nicht einer andern anzuschließen. In einem kannst du
allerdings recht haben. Die Emanzipation der Frau brachte sie zuerst von dem
verabscheuungswürdigen Los, heiraten zu müssen, nur um versorgt zu sein, zum
freien ehrenhaften Selbsterwerb, und in unsern Tagen ist sie dann auf eine viel
Persönlichere und menschenwürdigere Weise zur Liebe, die ihr Lebenselement ist,
zurückgeführt worden. -- Nur vergißt du, daß es immer Ausnahmen von der
Regel gibt.

Was mich selbst betrifft, so fehlt mir in deiner Lebensauffassung der Ernst.
Was du anbefiehlst, ist eben doch nur wieder das alte "dasitzen und auf einen
Freier warten", nur tust du es mit etwas neu übermalten Worten.

Gewiß haben wir alle eine Zeit gehabt, wo wir meinten, das Leben bestehe
nur aus dem, was geschehen solle. Weißt du noch, wie wir als dreizehn-, vierzehn¬
jährige Mädchen durch die langen Alleen jagten, immer mit Herzklopfen, immer
mit einem Gefühl unerklärlicher Spannung, weil unsre ganze kleine Person bis
zum Zerspringen voll war von der Erwartung kommender Ereignisse. Das heißt
von dem, der kommen sollte -- auf dem Brautroß -- und uns vor sich auf den
Sattel heben -- und mit uns davon reiten -- weit, weit fort ins Blaue hinein ...

Ich weiß wohl, daß es eine Zeit gab, wo mir jede andre Form des Lebens
undenkbar erschien, ja schlimmer als der Tod. Aber:

Jetzt aber, liebe Wanda, jetzt sage ich dir, das Leben besteht nicht aus
dem, was geschieht. Wenn ich deine Verlobung ausnehme, geschieht ja so jämmer¬
lich wenig, und die meisten Menschen wären also verdammt, ohne Leben umher¬
zuwandern.




T>le kleine graue Katze
Ingeborg Maria Sick von (Fortsetzung)

Ekencis, 25. September


Liebe Wanda!

o, mein Brief hat dich wütend gemacht? Und ich sei blind wie ein
Maulwurf mir selbst gegenüber. Und in der Liebe sei ich von jeher
ein echtes Weib gewesen und werde das immer bleiben, schlecht und
recht, und sonst nichts im Himmel und auf Erden.

Ja, das heißt, du hast entschieden, daß es so sei.

Du schreibst, ich dürfe um alles in der Welt nicht hingehn und
mich der Gruppe der Frauenrechtlerinnen anschließen. Jawohl, ich verstehe dich,
aber wenn du die Vorkämpferinnen des Stimmrechts darunter meinst, dann wisse,
daß ich mit diesen vollständig übereinstimme.

Im übrigen bin ich zuerst und zuletzt nur ich selbst — nämlich meine eigne
Gruppe und brauche mich nicht einer andern anzuschließen. In einem kannst du
allerdings recht haben. Die Emanzipation der Frau brachte sie zuerst von dem
verabscheuungswürdigen Los, heiraten zu müssen, nur um versorgt zu sein, zum
freien ehrenhaften Selbsterwerb, und in unsern Tagen ist sie dann auf eine viel
Persönlichere und menschenwürdigere Weise zur Liebe, die ihr Lebenselement ist,
zurückgeführt worden. — Nur vergißt du, daß es immer Ausnahmen von der
Regel gibt.

Was mich selbst betrifft, so fehlt mir in deiner Lebensauffassung der Ernst.
Was du anbefiehlst, ist eben doch nur wieder das alte „dasitzen und auf einen
Freier warten", nur tust du es mit etwas neu übermalten Worten.

Gewiß haben wir alle eine Zeit gehabt, wo wir meinten, das Leben bestehe
nur aus dem, was geschehen solle. Weißt du noch, wie wir als dreizehn-, vierzehn¬
jährige Mädchen durch die langen Alleen jagten, immer mit Herzklopfen, immer
mit einem Gefühl unerklärlicher Spannung, weil unsre ganze kleine Person bis
zum Zerspringen voll war von der Erwartung kommender Ereignisse. Das heißt
von dem, der kommen sollte — auf dem Brautroß — und uns vor sich auf den
Sattel heben — und mit uns davon reiten — weit, weit fort ins Blaue hinein ...

Ich weiß wohl, daß es eine Zeit gab, wo mir jede andre Form des Lebens
undenkbar erschien, ja schlimmer als der Tod. Aber:

Jetzt aber, liebe Wanda, jetzt sage ich dir, das Leben besteht nicht aus
dem, was geschieht. Wenn ich deine Verlobung ausnehme, geschieht ja so jämmer¬
lich wenig, und die meisten Menschen wären also verdammt, ohne Leben umher¬
zuwandern.


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[0159] [Abbildung] T>le kleine graue Katze Ingeborg Maria Sick von (Fortsetzung) Ekencis, 25. September Liebe Wanda! o, mein Brief hat dich wütend gemacht? Und ich sei blind wie ein Maulwurf mir selbst gegenüber. Und in der Liebe sei ich von jeher ein echtes Weib gewesen und werde das immer bleiben, schlecht und recht, und sonst nichts im Himmel und auf Erden. Ja, das heißt, du hast entschieden, daß es so sei. Du schreibst, ich dürfe um alles in der Welt nicht hingehn und mich der Gruppe der Frauenrechtlerinnen anschließen. Jawohl, ich verstehe dich, aber wenn du die Vorkämpferinnen des Stimmrechts darunter meinst, dann wisse, daß ich mit diesen vollständig übereinstimme. Im übrigen bin ich zuerst und zuletzt nur ich selbst — nämlich meine eigne Gruppe und brauche mich nicht einer andern anzuschließen. In einem kannst du allerdings recht haben. Die Emanzipation der Frau brachte sie zuerst von dem verabscheuungswürdigen Los, heiraten zu müssen, nur um versorgt zu sein, zum freien ehrenhaften Selbsterwerb, und in unsern Tagen ist sie dann auf eine viel Persönlichere und menschenwürdigere Weise zur Liebe, die ihr Lebenselement ist, zurückgeführt worden. — Nur vergißt du, daß es immer Ausnahmen von der Regel gibt. Was mich selbst betrifft, so fehlt mir in deiner Lebensauffassung der Ernst. Was du anbefiehlst, ist eben doch nur wieder das alte „dasitzen und auf einen Freier warten", nur tust du es mit etwas neu übermalten Worten. Gewiß haben wir alle eine Zeit gehabt, wo wir meinten, das Leben bestehe nur aus dem, was geschehen solle. Weißt du noch, wie wir als dreizehn-, vierzehn¬ jährige Mädchen durch die langen Alleen jagten, immer mit Herzklopfen, immer mit einem Gefühl unerklärlicher Spannung, weil unsre ganze kleine Person bis zum Zerspringen voll war von der Erwartung kommender Ereignisse. Das heißt von dem, der kommen sollte — auf dem Brautroß — und uns vor sich auf den Sattel heben — und mit uns davon reiten — weit, weit fort ins Blaue hinein ... Ich weiß wohl, daß es eine Zeit gab, wo mir jede andre Form des Lebens undenkbar erschien, ja schlimmer als der Tod. Aber: Jetzt aber, liebe Wanda, jetzt sage ich dir, das Leben besteht nicht aus dem, was geschieht. Wenn ich deine Verlobung ausnehme, geschieht ja so jämmer¬ lich wenig, und die meisten Menschen wären also verdammt, ohne Leben umher¬ zuwandern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/159>, abgerufen am 19.05.2024.