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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und die Boisserie

Wege zu ihm. Sulpiz erhielt die erschütternde Nachricht in Dresden, von wo
aus der Seitenweg nach Weimar schon beschlossene Sache war. Ottilie, Goethes
Schwiegertochter, hatte ihm den schmerzlichen Verlust gleich durch Soret, den
Erzieher des Erbprinzen, anzeigen lassen. Melchior sandte ihm dies in franzö¬
sischer Sprache abgefaßte Schreiben von München aus nach, und er schrieb an
Ottilie am 7. April 1832. In diesem Briefe heißt es: "Schon mehremal stand
ich im Begriff, Ihnen und Ihren lieben Kindern meine innigste Teilnahme an
dem Verlust unsers Freundes zu bezeugen, der seit einundzwanzig Jahren auch
mir ein wahrhaft väterlicher Freund gewesen ist. Aber mein Gemüt war zu
sehr erschüttert, es hatte sich alles vereinigt, um meinen Schmerz auf das
höchste zu verbittern. Ich kann es noch nicht ohne Tränen niederschreiben.
Durch des Lebens Wechsel immer mehr auf Täuschung gefaßt, überwältigt mich
doch dieser fürchterliche Verlust."

Verwunden wurde auch dieser Schmerz, wie doch fast alle Schmerzen auf
Erden. Ausgefüllt wurde die Lücke nicht wieder. Sulpiz hat noch zweiund¬
zwanzig Jahre gelebt, seit 1845 wieder am heimischen Rhein, wenn auch nicht
in der Vaterstadt Köln, doch im benachbarten Bonn, wo sein Haus in der
Poppelsdorfer Allee noch eine Gedenktafel trägt. Der schwächlichste an Ge¬
sundheit aus dem Kleeblatt, hat er doch die beiden andern überlebt, Bertram
sowohl wie auch den stillen, bescheidnen Melchior, der im Jahre 1851 starb,
und von dem es so wenig zu erzählen gibt, auch wenn man von "den" Boisseree
sprechen will. Man muß sich aber dies freundliche Bild immer im Hintergrunde
denken mit etwas blassen Zügen, aber doch in freundlichem Aussehen unver¬
kennbar. Oder will man die Ältern mit einem kühnen Melodienträger ver¬
gleichen, so hört man doch dabei auch die sanfte zweite Stimme, die nichts will
als begleiten, aber doch zur Harmonie des Ganzen wesentlich beiträgt.

Wir schauen noch einmal gerührten Blickes auf den schönen Herzensbund,
der sich zwischen Sulpiz und Goethe geknüpft hat. Es war fo, wie ich zu
Anfang sagte: Zwei Weltanschauungen treffen aufeinander, die Jugend nimmt
mit dem Alter den Kampf auf. Es fehlt nicht an leisen Disharmonien, aber
siegend erhebt sich über diesen die edle Menschlichkeit, der Adel der Persönlichkeit,
der beiden eigen war; sie waren einander wert, darum fanden sie sich, und als
sie sich die Hand gereicht hatten, da bildete die Schönheit und Reinheit der
Charaktere die feste Grundlage eines Freundschaftsbundes, den nichts zu er¬
schüttern vermochte, und an dem das Auge einer dankbaren Nachwelt sich immer
wieder zu erbauen vermag.




Goethe und die Boisserie

Wege zu ihm. Sulpiz erhielt die erschütternde Nachricht in Dresden, von wo
aus der Seitenweg nach Weimar schon beschlossene Sache war. Ottilie, Goethes
Schwiegertochter, hatte ihm den schmerzlichen Verlust gleich durch Soret, den
Erzieher des Erbprinzen, anzeigen lassen. Melchior sandte ihm dies in franzö¬
sischer Sprache abgefaßte Schreiben von München aus nach, und er schrieb an
Ottilie am 7. April 1832. In diesem Briefe heißt es: „Schon mehremal stand
ich im Begriff, Ihnen und Ihren lieben Kindern meine innigste Teilnahme an
dem Verlust unsers Freundes zu bezeugen, der seit einundzwanzig Jahren auch
mir ein wahrhaft väterlicher Freund gewesen ist. Aber mein Gemüt war zu
sehr erschüttert, es hatte sich alles vereinigt, um meinen Schmerz auf das
höchste zu verbittern. Ich kann es noch nicht ohne Tränen niederschreiben.
Durch des Lebens Wechsel immer mehr auf Täuschung gefaßt, überwältigt mich
doch dieser fürchterliche Verlust."

Verwunden wurde auch dieser Schmerz, wie doch fast alle Schmerzen auf
Erden. Ausgefüllt wurde die Lücke nicht wieder. Sulpiz hat noch zweiund¬
zwanzig Jahre gelebt, seit 1845 wieder am heimischen Rhein, wenn auch nicht
in der Vaterstadt Köln, doch im benachbarten Bonn, wo sein Haus in der
Poppelsdorfer Allee noch eine Gedenktafel trägt. Der schwächlichste an Ge¬
sundheit aus dem Kleeblatt, hat er doch die beiden andern überlebt, Bertram
sowohl wie auch den stillen, bescheidnen Melchior, der im Jahre 1851 starb,
und von dem es so wenig zu erzählen gibt, auch wenn man von „den" Boisseree
sprechen will. Man muß sich aber dies freundliche Bild immer im Hintergrunde
denken mit etwas blassen Zügen, aber doch in freundlichem Aussehen unver¬
kennbar. Oder will man die Ältern mit einem kühnen Melodienträger ver¬
gleichen, so hört man doch dabei auch die sanfte zweite Stimme, die nichts will
als begleiten, aber doch zur Harmonie des Ganzen wesentlich beiträgt.

Wir schauen noch einmal gerührten Blickes auf den schönen Herzensbund,
der sich zwischen Sulpiz und Goethe geknüpft hat. Es war fo, wie ich zu
Anfang sagte: Zwei Weltanschauungen treffen aufeinander, die Jugend nimmt
mit dem Alter den Kampf auf. Es fehlt nicht an leisen Disharmonien, aber
siegend erhebt sich über diesen die edle Menschlichkeit, der Adel der Persönlichkeit,
der beiden eigen war; sie waren einander wert, darum fanden sie sich, und als
sie sich die Hand gereicht hatten, da bildete die Schönheit und Reinheit der
Charaktere die feste Grundlage eines Freundschaftsbundes, den nichts zu er¬
schüttern vermochte, und an dem das Auge einer dankbaren Nachwelt sich immer
wieder zu erbauen vermag.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/158>, abgerufen am 10.06.2024.