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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Österreichischer Neuliberalismus

begonnen, um festzustellen, welche internationalen praktischen Maßnahmen
zur Lösung der Schwierigkeiten zu treffen seien, die die "besondre Entwicklung
gewisser Länder" (lies: die die Grenzen schließenden drakonischen Gesetze Chinas)
der "wirtschaftlichen Stabilität" ihrer Nachbarn bereiten. Man hat seit lange
nichts mehr von dieser Untersuchung gehört. Sollte sie auf wenig guten Willen
außerhalb der indochinesischen Grenzen gestoßen sein?

Wie dem sei, auf die Dauer kann sich Frankreich der Aufgabe eines zivili¬
sierten Staates nicht entziehen, sogar auf Kosten seiner budgetarischen Einnahmen
einem der furchtbarsten Laster in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der zivili¬
sierten Staaten energisch zuleide zu gehn. In diesem Sinne mehren sich in
Frankreich selbst die Stimmen von Tag zu Tag. Man empfindet es hier doch
mit einer gewissen Beschämung, daß in einer Frage, in der für ein Land wie
China das soziale Interesse allein maßgebend gewesen ist, für Frankreich fis¬
kalische Erwägungen ausschlaggebend mitsprechen sollten. Teilweise freilich will
man im Anschluß an Stimmen, die letzthin in England laut geworden sind,
hinter dem chinesischen Verbot ganz andre als humanitäre Motive wittern,
nämlich weiter nichts als das Bestreben, sich für später den einheimischen Markt
ganz für die eigne Produktion zu sichern, nachdem das chinesische Verbot auf
die ausländische Produktion vernichtend gewirkt hat. Immerhin bleibt in
Frankreich auf jeden Fall die große Sorge um die französische Marine. Und
schließlich kann Frankreich kaum umhin, in dieser hochwichtigen Frage sozialer
Hygiene weniger zu tun als das als halb barbarisch betrachtete China. Durch¬
fliegt man die namentlich seit dem strengen chinesischen Verbot ungemein zahl¬
reich gewordnen Artikel der französischen Presse über die Opiumfrage, so kann
man sich dem Eindruck nicht verschließen, daß alle erleuchteten Geister in Frank¬
reich derselben Meinung sind, nämlich daß in absehbarer Zeit auch für Frankreich
von dem Dilemma: "Nieder mit dem Opium, das tötet und abstumpft und
dem Wahnsinn in die Arme treibt, aber es lebe das Opium, das bereichert und
den Staatssäckel füllt", nur der erste Satz übrig bleiben darf.


Johannes Tschiedel


Österreichischer Neuliberalismus

>ird den unbehilflichen Staatskarren des Nationalitätenreichs die
von den einen leidenschaftlich erstrebte, von den andern gefürchtete
Wahlreform auf ein neues Gleis schieben, auf dem die Fahrt
-- zum Gipfel oder zum Abgrund -- flott vonstatten geht, oder
Iwird er sich mit dem neuen "Volksparlament" ganz ebenso von
einer "Staatsnotwendigkeit" zur andern fortwursteln wie unter dem Privilegien¬
parlament? Nach einem Jahre wird sich die Frage vielleicht beantworten lassen,


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begonnen, um festzustellen, welche internationalen praktischen Maßnahmen
zur Lösung der Schwierigkeiten zu treffen seien, die die „besondre Entwicklung
gewisser Länder" (lies: die die Grenzen schließenden drakonischen Gesetze Chinas)
der „wirtschaftlichen Stabilität" ihrer Nachbarn bereiten. Man hat seit lange
nichts mehr von dieser Untersuchung gehört. Sollte sie auf wenig guten Willen
außerhalb der indochinesischen Grenzen gestoßen sein?

Wie dem sei, auf die Dauer kann sich Frankreich der Aufgabe eines zivili¬
sierten Staates nicht entziehen, sogar auf Kosten seiner budgetarischen Einnahmen
einem der furchtbarsten Laster in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der zivili¬
sierten Staaten energisch zuleide zu gehn. In diesem Sinne mehren sich in
Frankreich selbst die Stimmen von Tag zu Tag. Man empfindet es hier doch
mit einer gewissen Beschämung, daß in einer Frage, in der für ein Land wie
China das soziale Interesse allein maßgebend gewesen ist, für Frankreich fis¬
kalische Erwägungen ausschlaggebend mitsprechen sollten. Teilweise freilich will
man im Anschluß an Stimmen, die letzthin in England laut geworden sind,
hinter dem chinesischen Verbot ganz andre als humanitäre Motive wittern,
nämlich weiter nichts als das Bestreben, sich für später den einheimischen Markt
ganz für die eigne Produktion zu sichern, nachdem das chinesische Verbot auf
die ausländische Produktion vernichtend gewirkt hat. Immerhin bleibt in
Frankreich auf jeden Fall die große Sorge um die französische Marine. Und
schließlich kann Frankreich kaum umhin, in dieser hochwichtigen Frage sozialer
Hygiene weniger zu tun als das als halb barbarisch betrachtete China. Durch¬
fliegt man die namentlich seit dem strengen chinesischen Verbot ungemein zahl¬
reich gewordnen Artikel der französischen Presse über die Opiumfrage, so kann
man sich dem Eindruck nicht verschließen, daß alle erleuchteten Geister in Frank¬
reich derselben Meinung sind, nämlich daß in absehbarer Zeit auch für Frankreich
von dem Dilemma: „Nieder mit dem Opium, das tötet und abstumpft und
dem Wahnsinn in die Arme treibt, aber es lebe das Opium, das bereichert und
den Staatssäckel füllt", nur der erste Satz übrig bleiben darf.


Johannes Tschiedel


Österreichischer Neuliberalismus

>ird den unbehilflichen Staatskarren des Nationalitätenreichs die
von den einen leidenschaftlich erstrebte, von den andern gefürchtete
Wahlreform auf ein neues Gleis schieben, auf dem die Fahrt
— zum Gipfel oder zum Abgrund — flott vonstatten geht, oder
Iwird er sich mit dem neuen „Volksparlament" ganz ebenso von
einer „Staatsnotwendigkeit" zur andern fortwursteln wie unter dem Privilegien¬
parlament? Nach einem Jahre wird sich die Frage vielleicht beantworten lassen,


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[0628] Österreichischer Neuliberalismus begonnen, um festzustellen, welche internationalen praktischen Maßnahmen zur Lösung der Schwierigkeiten zu treffen seien, die die „besondre Entwicklung gewisser Länder" (lies: die die Grenzen schließenden drakonischen Gesetze Chinas) der „wirtschaftlichen Stabilität" ihrer Nachbarn bereiten. Man hat seit lange nichts mehr von dieser Untersuchung gehört. Sollte sie auf wenig guten Willen außerhalb der indochinesischen Grenzen gestoßen sein? Wie dem sei, auf die Dauer kann sich Frankreich der Aufgabe eines zivili¬ sierten Staates nicht entziehen, sogar auf Kosten seiner budgetarischen Einnahmen einem der furchtbarsten Laster in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der zivili¬ sierten Staaten energisch zuleide zu gehn. In diesem Sinne mehren sich in Frankreich selbst die Stimmen von Tag zu Tag. Man empfindet es hier doch mit einer gewissen Beschämung, daß in einer Frage, in der für ein Land wie China das soziale Interesse allein maßgebend gewesen ist, für Frankreich fis¬ kalische Erwägungen ausschlaggebend mitsprechen sollten. Teilweise freilich will man im Anschluß an Stimmen, die letzthin in England laut geworden sind, hinter dem chinesischen Verbot ganz andre als humanitäre Motive wittern, nämlich weiter nichts als das Bestreben, sich für später den einheimischen Markt ganz für die eigne Produktion zu sichern, nachdem das chinesische Verbot auf die ausländische Produktion vernichtend gewirkt hat. Immerhin bleibt in Frankreich auf jeden Fall die große Sorge um die französische Marine. Und schließlich kann Frankreich kaum umhin, in dieser hochwichtigen Frage sozialer Hygiene weniger zu tun als das als halb barbarisch betrachtete China. Durch¬ fliegt man die namentlich seit dem strengen chinesischen Verbot ungemein zahl¬ reich gewordnen Artikel der französischen Presse über die Opiumfrage, so kann man sich dem Eindruck nicht verschließen, daß alle erleuchteten Geister in Frank¬ reich derselben Meinung sind, nämlich daß in absehbarer Zeit auch für Frankreich von dem Dilemma: „Nieder mit dem Opium, das tötet und abstumpft und dem Wahnsinn in die Arme treibt, aber es lebe das Opium, das bereichert und den Staatssäckel füllt", nur der erste Satz übrig bleiben darf. Johannes Tschiedel Österreichischer Neuliberalismus >ird den unbehilflichen Staatskarren des Nationalitätenreichs die von den einen leidenschaftlich erstrebte, von den andern gefürchtete Wahlreform auf ein neues Gleis schieben, auf dem die Fahrt — zum Gipfel oder zum Abgrund — flott vonstatten geht, oder Iwird er sich mit dem neuen „Volksparlament" ganz ebenso von einer „Staatsnotwendigkeit" zur andern fortwursteln wie unter dem Privilegien¬ parlament? Nach einem Jahre wird sich die Frage vielleicht beantworten lassen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/628>, abgerufen am 18.05.2024.