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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Haine-Himon

MMor einiger Zeit war ich veranlaßt, es für recht überflüssig zu
erklären, daß man den längst verstorbnen methodischen Narren
Fourier ausgrabe und seine Phantastereien noch einmal aus¬
führlich vortrage. Sehr viel anders steht es mit Saint-Simon,
der in einem Atem mit ihm genannt zu werden pflegt. Auch
bei ihm fehlt es nicht an utopischen Einfällen und Plänen, solche stellen sich
immer ein, wenn ein genialer und phantasievoller Mann sein Nachdenken auf
die Zustände der menschlichen Gesellschaft richtet; findet man sie doch auch in
Wilhelm Meisters Wanderjahren -- aber das Vernünftige und Solide über¬
wiegt: keimkräftige Gedanken, die bis heute teils Frucht tragen, teils als
richtige Vorhersagungen erwiesen werden. Davon überzeugt die jüngste Bio¬
graphie,*) deren Verfasser übrigens sehr bescheiden von sich denkt oder wenigstens
spricht: Kritiker "möchten bedenken, daß sie es nicht mit dem Werke eines
ausgereiften Gelehrten zu tun haben, sondern mit der Erstlingsschrift eines
armseligen Doktors der Philosophie, der, noch durchaus Anfänger, ohne irgend¬
welche fremde Förderung und Leitung seine eignen Wege gehn mußte". Mich
interessiert nicht der Verfasser und seine Art, den Gegenstand zu behandeln,
die übrigens sehr achtungswerte Kenntnisse bekundet, sondern das Material an
Zitaten, das er aus Saint-Simon darbietet und aus den Werken der Männer,
die aus diesem geschöpft haben.

Eine genealogische Fälschung trug dazu bei, in dem vom Bewußtsein seiner
außerordentlichen Geistesgaben geschwellten Grafen schon in früher Jugend die
Vorstellung zu erwecken, daß er zu Großem berufen sei. Georg Adler erzählt
im Handwörterbuch der Staatswissenschaften: die Saint-Simons gehörten dem
kleinen Adel von Vermandois an. Einer war Günstling Ludwigs des Drei¬
zehnter, und dieser verlieh ihm nicht allein die Herzogswürde, sondern erhöhte
den Glanz des neuen Herzogs auch noch dadurch, daß er ihn im Ernennungs¬
patent zu einem Sprößling der Grafen von Vermandois machte, die ihren
Stammbaum auf Karl den Großen zurückführten. Die aus so hoher Ab¬
stammung ihm erwachsende Verpflichtung nun fühlte Henri so lebhaft, daß er



^ Henri de Saint-Simon. Die Persönlichkeit und ihr Werk von Friedrich Muckle,
Doktor der Philosophie. Jena, Gustav Fischer, 1908.
Grenzboten IV 1908 17


Haine-Himon

MMor einiger Zeit war ich veranlaßt, es für recht überflüssig zu
erklären, daß man den längst verstorbnen methodischen Narren
Fourier ausgrabe und seine Phantastereien noch einmal aus¬
führlich vortrage. Sehr viel anders steht es mit Saint-Simon,
der in einem Atem mit ihm genannt zu werden pflegt. Auch
bei ihm fehlt es nicht an utopischen Einfällen und Plänen, solche stellen sich
immer ein, wenn ein genialer und phantasievoller Mann sein Nachdenken auf
die Zustände der menschlichen Gesellschaft richtet; findet man sie doch auch in
Wilhelm Meisters Wanderjahren — aber das Vernünftige und Solide über¬
wiegt: keimkräftige Gedanken, die bis heute teils Frucht tragen, teils als
richtige Vorhersagungen erwiesen werden. Davon überzeugt die jüngste Bio¬
graphie,*) deren Verfasser übrigens sehr bescheiden von sich denkt oder wenigstens
spricht: Kritiker „möchten bedenken, daß sie es nicht mit dem Werke eines
ausgereiften Gelehrten zu tun haben, sondern mit der Erstlingsschrift eines
armseligen Doktors der Philosophie, der, noch durchaus Anfänger, ohne irgend¬
welche fremde Förderung und Leitung seine eignen Wege gehn mußte". Mich
interessiert nicht der Verfasser und seine Art, den Gegenstand zu behandeln,
die übrigens sehr achtungswerte Kenntnisse bekundet, sondern das Material an
Zitaten, das er aus Saint-Simon darbietet und aus den Werken der Männer,
die aus diesem geschöpft haben.

Eine genealogische Fälschung trug dazu bei, in dem vom Bewußtsein seiner
außerordentlichen Geistesgaben geschwellten Grafen schon in früher Jugend die
Vorstellung zu erwecken, daß er zu Großem berufen sei. Georg Adler erzählt
im Handwörterbuch der Staatswissenschaften: die Saint-Simons gehörten dem
kleinen Adel von Vermandois an. Einer war Günstling Ludwigs des Drei¬
zehnter, und dieser verlieh ihm nicht allein die Herzogswürde, sondern erhöhte
den Glanz des neuen Herzogs auch noch dadurch, daß er ihn im Ernennungs¬
patent zu einem Sprößling der Grafen von Vermandois machte, die ihren
Stammbaum auf Karl den Großen zurückführten. Die aus so hoher Ab¬
stammung ihm erwachsende Verpflichtung nun fühlte Henri so lebhaft, daß er



^ Henri de Saint-Simon. Die Persönlichkeit und ihr Werk von Friedrich Muckle,
Doktor der Philosophie. Jena, Gustav Fischer, 1908.
Grenzboten IV 1908 17
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[0129] [Abbildung] Haine-Himon MMor einiger Zeit war ich veranlaßt, es für recht überflüssig zu erklären, daß man den längst verstorbnen methodischen Narren Fourier ausgrabe und seine Phantastereien noch einmal aus¬ führlich vortrage. Sehr viel anders steht es mit Saint-Simon, der in einem Atem mit ihm genannt zu werden pflegt. Auch bei ihm fehlt es nicht an utopischen Einfällen und Plänen, solche stellen sich immer ein, wenn ein genialer und phantasievoller Mann sein Nachdenken auf die Zustände der menschlichen Gesellschaft richtet; findet man sie doch auch in Wilhelm Meisters Wanderjahren — aber das Vernünftige und Solide über¬ wiegt: keimkräftige Gedanken, die bis heute teils Frucht tragen, teils als richtige Vorhersagungen erwiesen werden. Davon überzeugt die jüngste Bio¬ graphie,*) deren Verfasser übrigens sehr bescheiden von sich denkt oder wenigstens spricht: Kritiker „möchten bedenken, daß sie es nicht mit dem Werke eines ausgereiften Gelehrten zu tun haben, sondern mit der Erstlingsschrift eines armseligen Doktors der Philosophie, der, noch durchaus Anfänger, ohne irgend¬ welche fremde Förderung und Leitung seine eignen Wege gehn mußte". Mich interessiert nicht der Verfasser und seine Art, den Gegenstand zu behandeln, die übrigens sehr achtungswerte Kenntnisse bekundet, sondern das Material an Zitaten, das er aus Saint-Simon darbietet und aus den Werken der Männer, die aus diesem geschöpft haben. Eine genealogische Fälschung trug dazu bei, in dem vom Bewußtsein seiner außerordentlichen Geistesgaben geschwellten Grafen schon in früher Jugend die Vorstellung zu erwecken, daß er zu Großem berufen sei. Georg Adler erzählt im Handwörterbuch der Staatswissenschaften: die Saint-Simons gehörten dem kleinen Adel von Vermandois an. Einer war Günstling Ludwigs des Drei¬ zehnter, und dieser verlieh ihm nicht allein die Herzogswürde, sondern erhöhte den Glanz des neuen Herzogs auch noch dadurch, daß er ihn im Ernennungs¬ patent zu einem Sprößling der Grafen von Vermandois machte, die ihren Stammbaum auf Karl den Großen zurückführten. Die aus so hoher Ab¬ stammung ihm erwachsende Verpflichtung nun fühlte Henri so lebhaft, daß er ^ Henri de Saint-Simon. Die Persönlichkeit und ihr Werk von Friedrich Muckle, Doktor der Philosophie. Jena, Gustav Fischer, 1908. Grenzboten IV 1908 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/129>, abgerufen am 03.05.2024.