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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der preußische ^>kaat und die polnische Frage
W. von Massow voll

le Politik bedarf wenn sie nicht im Dunkeln tappen will, außer
den besondern Fähigkeiten, die dem praktischen Staatsmann eigen
sein müssen, auch der Beihilfe verschiedner Wissenschaften, unter
denen die Statistik und die Geschichte obenan stehn. Ein kleines
persönliches Erlebnis darf ich vielleicht dabei erwähnen. Als
ich vor einigen Jahren nach längerer Pause einmal wieder die Stadt Posen
besuchte, wandte sich mein Interesse auch gewissen Eindrücken aus dem Straßen¬
leben und der äußern Erscheinung der Stadt zu. Ich kam bei mir selbst zu
dem Ergebnis: "Gott sei Dank! Man merkt jetzt, daß eine energischere Hand
hier waltet als vor Jahren! Das Polentum macht sich nicht mehr so breit
wie damals!" In demselben Augenblick trat ein Bekannter zu mir, der
ebenfalls Posen nach einer Reihe von Jahren wiedersah, und meinte, es sei
doch eine wahre Schande, wie die Stadt zusehends immer polnischer werde.

Wer hatte Recht? Die Frage kann nur auf Grund statistischen Materials
beantwortet werden. Mit so widersprechenden, unsichern Eindrücken hat der
Politiker auf Schritt und Tritt zu tun, die Statistik aber lenkt ihn unerbittlich
auf die wirklichen Tatsachen hin. Freilich ist bei der Deutung solchen Materials
Vorsicht und Verständnis nötig, und außerdem gibt es Fragen genug, die
überhaupt nicht auf dem Wege statistischer Untersuchungen beantwortet werden
können, weil sie mit Kräften in Zusammenhang stehn, die niemals in zahlen¬
mäßig bestimmbaren Werten zur Erscheinung kommen. Das gilt namentlich
von allen den Verhältnissen, die nur aus ihrem Werden richtig zu begreifen
sind. Darum muß man zugleich die Geschichte zu Rate ziehen, wenn man
Art und Wesen politischer Fragen bestimmen will.

In der Polenfrage entsteh" die meisten Irrtümer dadurch, daß sich Leute,
die nur die "aktuelle" Seite der Sache äußerlich zu erfassen imstande sind,
berechtigt glauben, ein fertiges Urteil zu fällen, während ihnen der geschicht¬
liche Zusammenhang, der das Werden aller dieser Verhältnisse regiert und die


Grenzbote" I 1908 8


Der preußische ^>kaat und die polnische Frage
W. von Massow voll

le Politik bedarf wenn sie nicht im Dunkeln tappen will, außer
den besondern Fähigkeiten, die dem praktischen Staatsmann eigen
sein müssen, auch der Beihilfe verschiedner Wissenschaften, unter
denen die Statistik und die Geschichte obenan stehn. Ein kleines
persönliches Erlebnis darf ich vielleicht dabei erwähnen. Als
ich vor einigen Jahren nach längerer Pause einmal wieder die Stadt Posen
besuchte, wandte sich mein Interesse auch gewissen Eindrücken aus dem Straßen¬
leben und der äußern Erscheinung der Stadt zu. Ich kam bei mir selbst zu
dem Ergebnis: „Gott sei Dank! Man merkt jetzt, daß eine energischere Hand
hier waltet als vor Jahren! Das Polentum macht sich nicht mehr so breit
wie damals!" In demselben Augenblick trat ein Bekannter zu mir, der
ebenfalls Posen nach einer Reihe von Jahren wiedersah, und meinte, es sei
doch eine wahre Schande, wie die Stadt zusehends immer polnischer werde.

Wer hatte Recht? Die Frage kann nur auf Grund statistischen Materials
beantwortet werden. Mit so widersprechenden, unsichern Eindrücken hat der
Politiker auf Schritt und Tritt zu tun, die Statistik aber lenkt ihn unerbittlich
auf die wirklichen Tatsachen hin. Freilich ist bei der Deutung solchen Materials
Vorsicht und Verständnis nötig, und außerdem gibt es Fragen genug, die
überhaupt nicht auf dem Wege statistischer Untersuchungen beantwortet werden
können, weil sie mit Kräften in Zusammenhang stehn, die niemals in zahlen¬
mäßig bestimmbaren Werten zur Erscheinung kommen. Das gilt namentlich
von allen den Verhältnissen, die nur aus ihrem Werden richtig zu begreifen
sind. Darum muß man zugleich die Geschichte zu Rate ziehen, wenn man
Art und Wesen politischer Fragen bestimmen will.

In der Polenfrage entsteh» die meisten Irrtümer dadurch, daß sich Leute,
die nur die „aktuelle" Seite der Sache äußerlich zu erfassen imstande sind,
berechtigt glauben, ein fertiges Urteil zu fällen, während ihnen der geschicht¬
liche Zusammenhang, der das Werden aller dieser Verhältnisse regiert und die


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[0061] [Abbildung] Der preußische ^>kaat und die polnische Frage W. von Massow voll le Politik bedarf wenn sie nicht im Dunkeln tappen will, außer den besondern Fähigkeiten, die dem praktischen Staatsmann eigen sein müssen, auch der Beihilfe verschiedner Wissenschaften, unter denen die Statistik und die Geschichte obenan stehn. Ein kleines persönliches Erlebnis darf ich vielleicht dabei erwähnen. Als ich vor einigen Jahren nach längerer Pause einmal wieder die Stadt Posen besuchte, wandte sich mein Interesse auch gewissen Eindrücken aus dem Straßen¬ leben und der äußern Erscheinung der Stadt zu. Ich kam bei mir selbst zu dem Ergebnis: „Gott sei Dank! Man merkt jetzt, daß eine energischere Hand hier waltet als vor Jahren! Das Polentum macht sich nicht mehr so breit wie damals!" In demselben Augenblick trat ein Bekannter zu mir, der ebenfalls Posen nach einer Reihe von Jahren wiedersah, und meinte, es sei doch eine wahre Schande, wie die Stadt zusehends immer polnischer werde. Wer hatte Recht? Die Frage kann nur auf Grund statistischen Materials beantwortet werden. Mit so widersprechenden, unsichern Eindrücken hat der Politiker auf Schritt und Tritt zu tun, die Statistik aber lenkt ihn unerbittlich auf die wirklichen Tatsachen hin. Freilich ist bei der Deutung solchen Materials Vorsicht und Verständnis nötig, und außerdem gibt es Fragen genug, die überhaupt nicht auf dem Wege statistischer Untersuchungen beantwortet werden können, weil sie mit Kräften in Zusammenhang stehn, die niemals in zahlen¬ mäßig bestimmbaren Werten zur Erscheinung kommen. Das gilt namentlich von allen den Verhältnissen, die nur aus ihrem Werden richtig zu begreifen sind. Darum muß man zugleich die Geschichte zu Rate ziehen, wenn man Art und Wesen politischer Fragen bestimmen will. In der Polenfrage entsteh» die meisten Irrtümer dadurch, daß sich Leute, die nur die „aktuelle" Seite der Sache äußerlich zu erfassen imstande sind, berechtigt glauben, ein fertiges Urteil zu fällen, während ihnen der geschicht¬ liche Zusammenhang, der das Werden aller dieser Verhältnisse regiert und die Grenzbote» I 1908 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/61>, abgerufen am 04.05.2024.